von Bianka Boock
Sorgfältige Auswahl der Inhalte, dialogorientierte Kommunikation und qualitatives Webmonitoring sind Werte, die Social-Media-Experten predigen – auch im Zusammenhang mit einem Engagement auf Twitter. Dies soll zum Erfolg führen. Dennoch agieren längst nicht alle, die einen Nutzen daraus ziehen, auf diese Weise. Andere Methoden können ebenfalls zum Ziel führen. Unternehmen, deren Fachgebiet Online-PR ist, und User, die in ihrem Fachgebiet offline als Experten und online als Influencer eingestuft werden, machen es vor: Sie sind erfolgreich, obwohl sie weder auf interessanten Inhalt oder Dialog noch auf gründliches Monitoring setzen. Sie twittern wie die Vögel in Alfred Hitchcocks gleichnamigem Film. XIII Episoden aus dem alltäglichen Horror:
Animalische Manieren
Mancher wird auf Twitter zum Tier – zum Alphatier. Er schart hunderte oder gar tausende Follower um sich und folgt niemandem. Deutlich vermittelt er die Botschaft: „Man folge mir – nicht umgekehrt.“ Dies soll Account-Autorität ausstrahlen. Laut Daten der Barracuda Networks1 folgen 25 Prozent der Twitter User niemandem. Darunter dürfte sich ein erheblicher Teil befinden, der gar nicht schlummert, sondern aktiv ist. Mit den Grundprinzipien des Social Media hat dies allerdings wenig zu tun. Dies erinnert mehr an Schaumschlägerei als an echte wertvolle Accounts. Nachteil des Ganzen: Die Twitter-Profis entlarven derartige Accounts bereits beim ersten Blick.
Klone
Einige Unternehmen legen mehrere Profile mit verschiedenen Namen an, die keinen Bezug haben. Darüber versenden sie identische Tweets und verweisen dabei auf dieselben Links. Bei Bedarf interagieren sie sogar mit sich selber, indem ein Profil Tweets des anderen aufgreift und retweetet oder darauf antwortet – digitale Schizophrenie. Die Akteure glauben dabei an Synergieeffekte, die gar keine sind. Die übrigen Nutzer bekommen dasselbe Produkt in mehreren Verpackungen.
Heimtückischer Besuch
Mancher Nutzer abonniert Tweets anderer User nicht, weil er sie interessant findet. Er folgt absichtlich „zum Schein“. Durch das Folgen will er Aufmerksamkeit gewinnen. Sobald das Zielobjekt zurückgefolgt ist – oder kurz danach – wird ihm entfolgt. Wer hier nicht regelmäßig Software, zum Beispiel who.unfollowed.me, einsetzt, ist dem hilflos ausgeliefert. Auch angeblich seriöse User bedienen sich dieser Technik. So wollen sie ihre Account-Autorität erhöhen. Wer kein gesundes Misstrauen hat, tappt wie Beute in die Falle des Jägers. Ein anderer Weg ist noch aggressiver: Folgt das Zielobjekt nicht zurück, entfolgt ihm der Spammer, um sich dann erneut unter dessen Anhängerschaft zu begeben und in der entsprechenden Liste oben angezeigt zu werden.
Parasitäre Taktik
Es gibt Follower, die lediglich folgen bzw. interagieren, um ein dubioses Geschäft zu fördern. Wieder und wieder sammeln sich unter anderem Profile, die Geld-Verdienst oder Kredite versprechen, Abnehmcoaches, SEOisten und Verkäufer unter den Followern, die geblockt oder als Spam gemeldet werden müssen, wenn ein Unternehmen mit ihnen nicht in Verbindung stehen möchte. Häufig setzen diese Follower Automatismen oder Bots ein, die auf keinen menschlichen Benutzer angewiesen sind.
Das Ausmaß ist nicht unerheblich: Wie Prof. Marco Camisani Calzolari aus Mailand im Juni dieses Jahres bekannt gab2, sind bis zu 46 Prozent der Twitter Follower von Unternehmen mit aktiven Profilen von Bots erzeugt worden.
Manche retweeten ihre Zielobjekte. So werden beispielsweise Tweets mit hochwertigem Inhalt von mobilen Spielcasinos oder ähnlichen Profilen weiterverbreitet. Damit erregen jene nicht nur Aufmerksamkeit und erhöhen so die quantitative Interaktion, sondern erwecken obendrein einen auf den ersten Blick seriösen Anschein. Profile, die Botschaften von allgemeingültigem geschäftlichem Interesse verbreiten, sind für Geschäftsleute interessanter als Profile, die twittern, welches Sonderangebot gerade gilt. Dabei schaden sie der Reputation der Unternehmen, deren Botschaften sie ungefragt retweeten. Sie stellen einen Bezug her, den nicht jeder richtig bewerten kann. Profile wie „Schleudermaxe“, „111-Pharmacy“ und viele andere „111“-Accounts im selben Kontext mit der Botschaft eines Unternehmens können nicht gut für die Reputation sein.
Sirenen-Gesang
Im Twitter-Universum wird nicht nur gezwitschert. Es gibt auch Erwähnungen oder Retweets, mit denen spezielle Vertreter die Aufmerksamkeit des Users auf sich zu lenken versuchen. Die Gründe sind unterschiedlich. So kann der Spammer darauf abzielen, dass der User ihm folgt, auf den mitgelieferten Link klickt, ihn retweetet oder ihn ebenfalls erwähnt. Geschieht dies massenhaft, entsteht Hintergrundrauschen, das relevante Mentions übertönt. Diese blockieren beispielsweise den Standard-Stream, in dem der User sehen kann, wer ihn erwähnt hat. Erwähnungen und Retweets anderer sind nicht mehr ohne Weiteres sichtbar. Denn nicht jeder hat ein professionelles Monitoringsystem im Einsatz oder weiß, wie man sonst unter Ausschluss bestimmter Nutzer Erwähnung findet. Wie ein ahnungsloser Schiffer erliegt er dem betörenden Gesang der Sirenen.
Anders als in der griechischen Mythologie lauern die Sirenen auf Twitter in Scharen auf Opfer. Darauf deutet eine Studie der University of California, Berkeley, und des International Computer Science Institute3 hin. Die Wissenschaftler haben im Zeitraum von August 2010 bis März 2011 mehr als 1,1 Millionen Accounts analysiert, die Twitter wegen störender Aktivitäten suspendiert hatte. Ein Ergebnis: 52 Prozent dieser Profile waren wegen unerbetener Erwähnungen abgeschaltet worden.
Ewig grüßt der Spammer
Manchmal gibt es Gründe, einem User zu folgen, auch wenn man kein Interesse an seinen Tweets hat und ihm nicht folgen möchte. Bei Unternehmensprofilen kann dies dann der Fall sein, wenn es sich um einen wichtigen Kunden oder Geschäftspartner handelt, der auf diese Weise zuvorkommend behandelt werden soll. Wenn dieser einen Tweet nach dem anderen verschickt und sich als Spammer entpuppt, kann er die Kommunikation empfindlich stören. Denn solche User schaffen es locker auf 100 Tweets binnen einer Stunde. Sie bemühen sich nicht, jeden Tweet selber zu formulieren. Die Zauberworte für sie heißen „Effizienz“ und „Mehrfachnutzung“. Für die Effizienz sorgen Automatismen, über die Inhalte ohne manuelle Anstrengung veröffentlicht werden. Die Mehrfachnutzung erfolgt durch die Wiederverwendung von Inhalten. Dadurch spülen sie ihren Followern Updates in die Timeline, die auf alte Beiträge verweisen und auf die Follower bereits mehrmals im Web begegnet sind. Sie liefern keine neuen Aspekte und wiederholen versendete Tweets immer wieder – frei nach dem Motto „steter Tropfen höhlt den Stein“.
Dadurch dominieren sie die Timeline ihrer Follower. Diese finden dort fast nur noch die Botschaften der omnipräsenten User. Wer solchen Profilen weiterhin folgen möchte oder soll, kann ausschließlich mit Listen arbeiten und muss seine Timeline komplett abschreiben. Doch dies reicht nicht. Spätestens beim Login in Twitter werden diese Spammer erneut ins Blickfeld gerückt.
Linkschleudern
Zwar ist Twitter – einer Studie am koreanischen Forschungszentrum Kaist zufolge – eher ein Medium zur Verbreitung von Nachrichten als ein Social Network. Jedoch ist eine Nachricht ist eine Nachricht ist eine Nachricht … Oder anders gesagt: Viele User verstehen Twitter als „zusätzliche Plattform“, um „Inhalte“ zu verbreiten, auch wenn diese für andere keinen Wert haben. Hauptsache die gewünschten Links tauchen auf.
Das Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der Universität Wien hat analysiert, auf welche Medieninhalte Nutzer in Twitter verweisen und in welcher Form sie dies tun. Untersucht wurden 3.221 deutschsprachige Tweets von Personen. Zentrale Ergebnisse der im April 2011 veröffentlichten Studie4 sind, dass 34 Prozent der Links aus Tweets zu redaktionellen Medien führen, 28 Prozent auf User Generated Content und 37 Prozent auf Inhalte von Unternehmen oder Organisationen. Die Hälfte aller Links aus Tweets sind als Nachrichten zu werten, knapp ein Viertel als Werbung beziehungsweise Produktinformation. Bei 58 Prozent wird der Titel des Medieninhaltes übernommen.
Automatisches Dauerfeuer
Automatismen helfen, Meldungen aus verschiedensten Applikationen zu twittern, z. B. „Meine Woche auf Twitter: 20 Retweets erhalten, 5 neue Listings, 20 neue Follower, 80 Erwähnungen“, „The Daily wurde gerade veröffentlicht“ oder „Ich habe ein @YouTube-Video hochgeladen“. Für den App-Spam stehen viele Netzwerke und zahlreiche Dienste aus verschiedenen Bereichen zur Verfügung: TwentyFeet, Paper.li, Foursquare, Klout etc. Da diese häufig kombiniert werden, kommt dies einem andauernden Beschuss gleich.
Attacken im Schwarm
Im Januar 2009 hatte Micah Baldwin die Idee, freitags nützliche Folgeempfehlungen zu geben5. Daraus ist ein Sport geworden. Ein Mannschaftssport. Statt zu schreiben, warum ein Nutzer das Folgen wert ist, hat es sich etabliert, mehrere Nutzernamen auf einmal zu posten und lediglich ein #ff oder #FollowFriday hinzuzufügen. Tools wie der FollowFriday Helper leisten hier entsprechende Dienste. Überdies warten viele nicht auf Freitag. Längst gibt es den Follow Monday, Follow Thuesday usw. Wer darauf keine Lust hat, nimmt die #Tagesempfehlung. Als Pendant gibt es den #unfollowmonday oder #unfollowfriday. Die Empfohlenen retweeten die Empfehlung, werfen oft ein #ff zurück, favorisieren den Tweet. Immer wieder tauchen solche Tweets mehr oder weniger häufig in Timeline und in den Listen auf. Niemand kann ihnen entkommen.
Ressourcen-Diebstahl
Der Inhalt macht einen Tweet einzigartig und ist zugleich wertvolles Kapital des Users. Findet ein anderer Interesse an einem Tweet, so heißt dies nicht automatisch, dass er ihn – wie erlaubt – retweetet oder inklusive Erwähnung des Urhebers an seine Follower weiterleitet. Stattdessen kommt es vor, dass er ihn umformuliert und absichtlich ohne die Nennung des Urhebers unter seinem Namen verschickt. Manche sparen sich das Umformulieren ganz und versenden den Tweet unter ihrem Namen.
Ebenfalls Praxis ist, dass originelle Tweets kommerziell „weiterverwendet“ werden, beispielsweise für Bücher. Auch wenn es dazu durchaus verschiedene Ansichten gibt, führt dies zu Unmut. Die Rezensionen6 des Buches namens „Nachts um 3 Uhr klingelte der Nachbar. Mir ist vor Schreck fast die Bohrmaschine aus der Hand gefallen: Immer einen blöden Spruch auf Lager“ auf Amazon inklusive der Kommentare zum Thema „Finden wir Sprüchediebstahl inzwischen in Ordnung?“7 sprechen eine deutliche Sprache. Darin raten User vom Kauf des Buches ab und verurteilen das kommerzielle Verwenden fremder Inhalte ohne das Einverständnis der Urheber.
Hashtag-Piraterie
Hashtags sind Schlagworte, die das Auffinden von Tweets zu bestimmten Themen vereinfachen und der Kommunikation bei Veranstaltungen dienlich sind. Häufig wird ein Hashtag lange im Vorfeld einer Veranstaltung unter vielen Überlegungen ausgesucht, aufwändig promotet und für Integrationen, beispielsweise in die Website, oder das Erstellen einer Twitter Wall, welche die Diskussionen zur Veranstaltung abbilden soll, verwendet. Viel Mühe steckt dahinter. Mühe, die plötzlich zunichte gemacht werden kann. Binnen weniger Augenblicke – im schlimmsten Fall während eines Events – vor aller Augen. Hashtag Hijacking heißt das Stichwort.
Dabei kapern Nutzer Hashtags, indem sie binnen kurzer Zeit eine Schwemme von Tweets mit diesem Hashtag verschicken. Selten verwenden sie relevanten und aktuellen Content. Oft benutzen sie alte Meldungen, posten ihre Updates wiederholt oder geben Tweets anderer User mit dem betreffenden Hashtag weiter. Somit treffen Nutzer, die in der Twittersuche nach einem bestimmten Hashtag suchen, hauptsächlich oder nur noch auf die entgleisten Nutzer. Nicht moderierte Twitter Walls, also solche, auf denen alle Tweets zu einem oder mehreren Hashtags zugelassen werden, ohne User herauszufiltern, werden unbrauchbar. Unterhaltungen ersticken im Keim.
Belästigungen – persönlich und direkt
Persönliche Ansprache ist im Marketing wichtig. Was darunter zu verstehen ist, wird jedoch unterschiedlich interpretiert. Während die einen ihre Aktivitäten nach den Erwartungen ihrer Zielgruppe auszurichten versuchen, legen andere ihre subjektive Auffassung dessen, was die Zielgruppe interessiert, zu Grunde. So kommt es, dass manche unter der Personalisierung von Informationen das Verschicken von Direktnachrichten mit werblichem Inhalt an ihre Follower verstehen. Dass sie damit gegen das Gesetz des unlauteren Wettbewerbs verstoßen und Follower belästigen, stört sie nicht.
Netzwerkübergreifende Infiltration
Einige sind in besonders hohem Maße engagiert. Sie agieren nicht nur auf Twitter, sondern auch in Networks wie Xing, Facebook & Co. Sie schaffen das, weil sie mit Unterstützung verschiedener Tools denselben Content ohne zusätzlichen Aufwand auf vielen Quellen publizieren können. So begegnet der User den Beiträgen auch dort.
Und die Moral von der Geschicht‘: Für manche Geschäftsziele genügt nachhaltiger Micoblogging-Horror nicht nur. Er ist sogar dienlich. Prädestiniert dafür ist beispielsweise der Markt für den Kauf von Twitter Follower. Obwohl er immer wieder kritisiert und verurteilt wird, handelt es sich dabei um einen wachsenden Trend, wie eine Studie der Barracuda Labs8 aufgedeckt hat. Er formt eine „Underground Economy“, die in voller Blüte steht. Dies ist jedoch nicht jedermanns Geschäft – „Was dem einen recht ist, ist für den anderen billig“.
Illustrationen: Bilder der Künstlerin Gönül Sen-Menzel
Gönül Sen-Menzel aka gönül war eine bildende Künstlerin. Seit 1972 arbeitete sie als Pädagogin und Kunstlehrerin und schloss 1989 ihr Studium an der Kunstakademie Düsseldorf als Meisterschülerin ab.
Neben ihren von der Fachwelt geschätzten Arbeiten als Malerin und Zeichnerin verfasste und illustrierte gönül für den Schulbuchverlag Anadolu die zweisprachige Vita-Kinderbuchreihe (türkisch/deutsch), die verschiedene Reisen des Vitamins Vita durch den menschlichen Körper hat.
gönül arbeitete und lebte in Köln.
Quellen
- Richard Darell, „Twitter’s Dirty Little Secret…“, bit.ly/ecFrqB
- Ilaria Polleschi, „Robots crowd Twitter brand profiles-study“, reut.rs/KDUmyX
- Kurt Thomas, Chris Grier, Vern Paxson, Dawn Song, „Suspended Accounts in Retrospect: An Analysis of Twitter Spam“, bit.ly/vDCIaA
- Axel Maireder,“Links auf Twitter – Wie verweisen deutschsprachige Tweets auf Medieninhalte?“, bit.ly/fYHulw
- Micah Baldwin, bit.ly/qBGib2
- „Finden wir Sprüchediebstahl inzwischen in Ordnung?“
- Jason Ding, „The Twitter Underground Economy: A Blooming Business“, bit.ly/OxmALB