Unternehmen betreiben sehr viel Social Media Marketing. Dabei hat man oft den Eindruck, dass das Social Media Recruiting vernachlässigt wird. Wie sehen Sie den Recruiting-Bereich?
Dr. Sen: Grundsätzlich wird Social Media nicht nur im Marketing eingesetzt. Bei Unternehmen spielt Social Media in der PR, im Issue – Management und in der internen und externen Kommunikation sowie in der Produktentwicklung eine Rolle. Und auch Marktforschung ist ein ganz wichtiger Bereich.
Ich stelle fest, dass im Bereich Social Media Recruiting momentan nicht sehr viel passiert. Die HR schöpft die ihr sich bietenden Möglichkeiten derzeit nicht aus, im Gegenteil, die HR ist im Bereich Social Media noch sehr weit hinten. Das kann in der Kultur der HR liegen, die sich in Vergangenheit schon immer schwer getan hat an neue technische Gegebenheiten anzupassen. Bereits zu Zeiten des Web 1.0 haben einige versäumt, diese Kanäle zu nutzen, stattdessen hat man weiter in Zeitungen inseriert.
Nun bietet sich Social Media als Chance für das Recruiting und es läuft leider nicht darauf hinaus, dass das Medium auch in Social-Media–Manier genutzt wird. Es wird lediglich mit Bannern und auf die Unternehmen aufmerksam gemacht. Festzuhalten bleibt, dass Social Media in der HR noch nicht richtig gut genutzt wird.
Was können Unternehmen von Social Media Recruiting erwarten?
Die Kommunikation findet ja jetzt schon im Social Web statt. Die Menschen diskutieren über die Unternehmen und das Issue Management hat bereits gemerkt, dass die Unternehmen auch als Arbeitgeber in den Vordergrund gerückt sind. Ich finde allerdings, es ist nicht nur die Aufgabe des Issue-Managements und der PR. Auch die HR muss hier die Aufgabe übernehmen, Social-Media-Kanäle zu beobachten bzw. zu monitoren, um das Image des eigenen Unternehmens zu messen. Diesmal aber mit der Fragestellung, wie man als Arbeitgeber im Web wahrgenommen wird.
Neben den typischen Bewertungsportalen für Arbeitgeber findet aber die Kommunikation und damit einhergehend die Bewertung von Arbeitgebern auch vor allem in Foren, sekundär in Blogs, Twitter, Facebook und YouTube statt. Die potenziellen Bewerber erzählen jedoch meist in Foren ihre Bewerbungsgespräche. Teilweise werden Unternehmen beleidigt, Polemik ist oft der Fall. Ehemalige Mitarbeiter, die gekündigt wurden, legen ihre Kündigungsgründe auch gerne mal offen. Es wird ganz offen über Gehälter, Abteilungsleiter, oder die Unternehmenskultur gesprochen, meistens mit Pseudonymen.
Ein potenzieller Arbeitnehmer, der nun in diesen Kanälen liest und sich für ein Unternehmen interessiert, bekommt natürlich einen negativen oder positiven Eindruck vom Unternehmen. Hier erkennt man, dass nicht nur das Issue Management verantwortlich sein kann. Wobei ja man auch sagen muss, dass es das Issue Management im Unternehmen ja auch nicht gibt. Sie wird eher von verschiedenen Abteilungen getragen, wie beispielsweise dem Marketing, Produktmanagement und der PR.
Die Chance für das Recruiting besteht darin, sich diese Kanäle anzuschauen und zu prüfen, wie die öffentliche Wahrnehmung ist. Im ersten Schritt wird also beobachtet, und danach muss in dieser Community eine Interaktion oder Engagement stattfinden, wozu ein Konzept benötigt wird. Für das Recruiting bzw. den HR-Bereich bietet sich also die Chance zu beobachten und zu verstehen und im letzten Schritt gemäß eines ausgearbeiteten Konzeptes zu Handeln.
Ist Social Media Recruiting überlebensnotwendig?
Das kommt drauf an, was Sie mit Überleben meinen. Für die einzelnen HR-Mitarbeiter mit Sicherheit ja, denn das Thema wird sich irgendwann intensivieren. Der Druck von oben wird zunehmen. Wenn der einzelne Mitarbeiter nicht weiß, was unter Social Media zu verstehen ist, dann kann dies Konsequenzen haben, wie beispielsweise die Kündigung.
In der Regel sind dann bereits ein paar Jahre vergangen und Unternehmen bzw. deren Abteilungen (Marketing, Marktforschung, PR), die bereits erfolgreich mit Social Media arbeiten, kennen sich mit dem Thema schon aus. Wenn der Bereich HR sich bis dahin nicht mit dem Thema auseinander gesetzt hat, wird das die Abteilung von der Kompetenzstruktur her nicht überleben. Dies kann als internes Problem festgehalten werden.
Ob das Unternehmen das überleben wird ist eine sehr strategisch gerichtete Frage. Bei Großunternehmen spielt natürlich die Stärke des Teams eine Rolle. Ich denke gerade im Innovationsbereich, Produktentwicklung und Produktinnovation, hat ein Unternehmen erhebliche Nachteile, wenn es nicht die richtigen Leute im Social Web ansprechen kann und dann nur noch konservative Mitarbeiter beschäftigt.
Aber nicht jeder schreibt im Web. Sind diese Zielgruppe überhaupt ansprechbar?
Unternehmen können grundsätzlich alle Zielgruppen über Social Media erreichen. Jeder, der im Web liest, kann die Zielgruppe sein. Nur weil jemand nicht interagiert, heißt das nicht, dass er nicht mitbekommt, was dort passiert.
Auch Abteilungsleiter oder Vorstände lesen im Web, auch wenn sie dort nichts schreiben.
Aber es gibt auch Zielgruppen, die z.B. aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht in Social Media aktiv sind.
Das ist genau das Problem, dass ich eben erwähnt habe. Nur weil jemand keine Informationen publiziert heißt das nicht, dass er nicht Informationen konsumiert. Produzieren geht nicht einher mit konsumieren. Ich kann konsumieren, muss aber nichts produzieren. Denken Sie an Wikipedia. Früher waren es gerade mal 400 Leute, die wirklich aktiv verfasst haben. Aber konsumiert wurde das Wissen dagegen von fast allen Teilnehmern des Webs, die die Artikel über die Suchmaschinen gefunden haben.
Wenn die Zielgruppe aus datenschutzrechtlichen, persönlichen, oder aus Vertragsgründen nicht in Social Media produziert, heißt das nicht, dass sie sich dort nicht aufhält. Ein Beispiel: Sie schreiben einen Artikel, erhalten keine Kommentare und vielleicht gar keine Likes. Aber der Artikel wird trotzdem gelesen. Zu sagen, dass wenn man aktiv ist, man auch eine Zielgruppe sei, wäre eine falsche Annahme.
Schwierig wird es nun allerdings bei der Messung. Woher weiß ich, ob meine Zielgruppe das gelesen hat? Wenn meine Zielgruppe dort nicht partizipiert, woher weiß ich dann, ob sie auch wirklich die Inhalte konsumiert haben? Ja, man kann dies messen. Allerdings nicht, wenn ein Unternehmen oder Mitarbeiter sich erst seit kurzem mit Social Media beschäftigt. Hier fehlt dann die Kompetenz. Und das ist das Problem vom HR. Social Media KPIs und Messwerte sind Themen, die ein noch ein tieferes Verständnis für das Social Web.
Sollte die HR zwischen den Digital Natives und den Digital Immigrants unterscheiden?
Eine so klare Linie zwischen Digital Natives und Digital Immigrants zu ziehen halte ich für unnötig. Letztendlich ist die technologische Oberfläche, auf der ich mich aufhalte, für alle gleich. Ich kann verschiedene konzeptionelle Wege gehen, um Zielgruppen wirklich nochmals auszuselektieren, aber ich würde jetzt nicht grundsätzlich sagen, ich brauche ein Konzept für Digital Natives und eins für Digital Immigrants.
Aber trotzdem: Erreicht man Digital Natives eher über Social Media und Digital Immigrants eher über die klassischen Recruitingkanäle?
Der Gedanke ist natürlich schön, denn er würde die Sache einfacher machen. Allerdings halte ich diese Theorie für weit hergeholt. Handelt es sich tatsächlich um konservativen Leute, die nichts mit dem Web zu tun haben wollen? Kann man solche Menschen überhaupt klassifizieren? Mittlerweile bekommt ja auch jeder, der offline ist mit, was online passiert.
Also ich würde diese Unterscheidung nicht machen. Ohnehin sind diese beiden Begriffe problematisch, denn was ist schon ein Digital Immigrant? Da gibt es Computerfreaks und Hacker, die schon seit der Zeit der 80er Jahre angefangen haben zu programmieren und bis heute zu einer Art Computerlite gehören. Selbst Bill Gates und auch Steve Jobs sind/waren solche Hacker. Und nach der Definition von Marc Prensky sind diese Leute Digital Immigrants, da sie vor 1980 auf die Welt kamen. Diese Definition wird daher von vielen kritisiert.
Sollte das Recruiting aktiv mit der Zielgruppe über Social Media Kontakt aufnehmen?
Social Media ist ein Wissensthema. Sie müssen das Medium verstehen, und das können sie nur, wenn sie sich erstmal eine Weile darin aufhalten. Durch das Verstehen und Erstellen von Konzepten, durch die Interaktion mit anderen Experten bauen Unternehmen nach und nach Wissen auf. Es gibt keine allgemein etablierte Lösung, wie man in Social Media starten sollte. Jedes Unternehmen ist individuell und hat eigene, individuelle Probleme. Dementsprechend muss jedes Unternehmen sein eigenes Konzept erarbeiten. Es gibt beispielsweise auch derzeit kaum Standardkennzahlen für Social Media. Wenn ein Unternehmen das Medium verstanden hat, muss es die für die eigenen Zwecke als sinnvoll erachteten Arten von Kommunikation in die Wege leiten.
Man kann also nicht pauschal sagen, es ist wichtig für Unternehmen zu interagieren, oder in Kommunikation zu treten. Das kann für bestimmte Unternehmen genau das Falsche sein. Aber die Erkenntnis, ob es richtig oder falsch ist, leitet man aus dem Wissen ab, dass man erhält, wenn man zuerst beobachtet. Die Unternehmen muss immer im Hinblick auf sein eigenes Problem, Ziel und Strategie beobachten.
Würden Sie Unternehmen empfehlen die Social-Media-Kanäle erstmal auszuprobieren?
Das kennt man aus dem strategischen Marketing: probieren … prüfen … falscher Weg … neuer Weg. Das ist ein typisches Phänomen, was sich bei Unternehmen feststellen lässt, die keine Strategie bzw. Zielsetzung haben. Ich eröffne einen Kanal – sehe es funktioniert nicht – und dann probiere ich einen anderen. Solche Mehrfachwege gilt es allerdings zu verhindern. Eine Strategie muss zielgerichtet sein, dass heißt das Unternehmen wird erst mit einem klaren Konzept und Zielsetzung aktiv und erreicht das Ziel auf direktem Wege. Das sind die Eigenschaften von strategiegeleiteten Handlungen.
Wie wichtig ist eine Präsenz auf verschiedenen Social-Media-Kanälen?
Diese Frage lässt sich nicht so allgemein beantworten, denn es kommt immer auf das Unternehmen an. Es kann für ein Unternehmen ein Desaster sein, in bestimmten Portalen zu agieren, es kann aber auch das Gegenteil passieren. Recruiting ist immer eine sehr individuelle Sache. Wenn Sie zum Beispiel spezielle Leute im Ingenieurbereich für Maschinenbau suchen, dann finden sie diese vielleicht bei einem Business Network wie Xing oder LinkedIn gar nicht, aber dafür in den jeweiligen Ingenieursforen.
Wie hoch sollte der Ressourceneinsatz sein?
Die Frage nach den Ressourcen resultiert aus dem Nutzfaktor und dem Ziel des Unternehmens. Es kommt immer darauf an, welches Ziel erreicht werden soll und dementsprechend müssen bestimmte Ressourcen eingesetzt werden. Kommt ein Unternehmen bereits mit einem geringeren Ressourceneinsatz ans Ziel, dann muss entsprechend wenig eingesetzt werden und umgekehrt. Es gibt keine Regelung die besagt, es müssen beispielsweise 20 Prozent des gesamten Budgets für das Recruiting eingesetzt werden. Den Ressourceneinsatz kann man erst berechnen, wenn man das Ziel vor Augen hat. Die Verantwortlichen müssen konkret formulieren, unter Einsatz welcher Ressourcen sie ihr Ziel erreichen können. Ggf. muss das Controlling dann mehr Ressourcen für das Recruiting bereitstellen oder freigeben. Wählt man den Weg der Effizienz wird man das Ziel unter Einhaltung gegebener Mittel erreichen. Das allerwichtigste hierbei ist die Fragestellung. Diese ist ausschlaggebend für die Ausrichtung strategischer Gedanken. Daraus entsteht dann auch letztendlich die Messung, wie viel ein Unternehmen an Ressourcen aufwenden muss.