Der Nörgler leerte genüsslich sein Bier und stellte die Flasche beiseite. „Einen Moment“, sagte er und zog eine Streichholzschachtel aus der Brusttasche. Er schob sie auf, holte einen eng gerollten Joint hervor und zündete ihn an. „Es ist folgendermaßen“, fuhr er fort, während er seinen ersten waalfischartigen Zug machte und den Rauch wieder ausstieß. „Ich habe in den letzten Tagen viel darüber nachgedacht. Es hat mich ganz schön durcheinandergebracht. Dass ihr meine Songs singt, meine ich.“
„Deine Songs?“, fragte Denise erstaunt. Lucinda war wie vor den Kopf gestoßen, konnte nichts sagen.
„Meine kleinen Kritzeleien, meine ersten Entwürfe.“ Er reichte Lucinda den Joint. „Meine Nörgeleien, wie auch immer ihr sie nennen wollt. Du hast sie bei unseren Telefonaten mitgeschrieben, nicht wahr?“
Lucinda nickte hypnotisiert. Carl erhob Anspruch auf die Band. Sie konnte ihm schlecht widersprechen. Überall wo sie festen Boden wähnte, war Land unter, das Wasser stand ihr schon bis zu den Knien oder höher. In Wahrheit konnte er von ihr haben, was er wollte. Das lag in der Natur ihrer Entdeckung, ihrer merkwürdigen neuen Liebe. Mehr noch, das Ausmaß ihrer Unterwürfigkeit schloss auch Denise ein. Sie war bloß neugierig, was der Nörgler mit Denise anstellen würde.
Lucinda zog leicht an dem Joint und schielte dabei auf die Spitze, um sicherzugehen, dass er brannte. Sie hatte nie Zigaretten geraucht, und wenn sie Marihuana paffte, kam sie sich vor wie eine Hochstaplerin, die etwas vortäuschte, das für andere normal war. Mit angehaltenem Atem reichte sie Denise den glimmenden Joint, als wollte sie sich ihrer Komplizenschaft versichern. Denise nahm ihn entgegen, ohne Lucinda in die Augen zu schauen.
„Die Dinge, die zu Texten geworden sind, du hast sie doch zum ersten Mal gedacht, als du mit mir gesprochen hast, oder?“ Lucinda hörte, wie Wehleidigkeit ihre Stimme beschlich.
Carl zuckte die Schultern. „Schwer zu sagen. Ich mache mir immer Gedanken über das ein oder andere Motiv. Ich war sehr angetan davon, was du aus meinen Worten gemacht hast.“
„Du hast dir ›Monster Eyes‹ ausgedacht?“, fragte Denise. Sie saugte an dem Joint, schluckte den Rauch wie ein Profi, sogar als sie Carl skeptisch ansah.
„Die Worte kamen aus diesem Mund.“
„Sie waren aber nicht als Song gedacht“, betonte Lucinda.
„Nein, ich dachte, ich würde dich verführen“, gab er zu. „Was ich anscheinend getan habe, während ich in meiner Freizeit einen Song schrieb. Ich bin sehr stolz auf mich.“
Denises Blick war auf Carl geheftet, als wollte sie seine Herausforderung mit ganzer Kraft annehmen, eher um der Band willen als wegen Lucinda. Sie hielt die Marihuanazigarette zwischen ihre Finger geklemmt, die gewölbte Hand nah am Mund, und inhalierte ganz vorsichtig. Lucinda hatte schon mitbekommen, wie die Schlagzeugerin das Stadium des Vollrausches erreichte, mit einer dicken, glasigen Brille aus Drogen oder Alkohol, durch die sie die Welt wahrnahm wie durch ein durchsichtiges Schild. „Du hast Lucinda ausgetrickst, damit sie deine beschissenen Texte benutzt.“ Ihr Tonfall war nicht völlig feindselig. „Und jetzt forderst du die Urheberrechte an Songs, die eigentlich Bedwin geschrieben hat, den du nicht mal kennst.“
„Ich würde ihn sehr gerne kennen lernen.“
„Willst du die Band vernichten?“
„Warum sollte ich das wollen? Ich bin die Band.“
Aus: Jonathan Lethem, Du liebst mich, du liebst mich nicht. Erscheint am 21. Mai 2007 im Tropen (Klett-Cotta).
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