Original – Kopie – AdaptionDie TV-Serie im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeitvon Michael Scheyer
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Zum Zeitpunkt dieser Arbeit ist es schon über 70 Jahre her, dass Walter Benjamin seinen Aufsatz „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ veröffentlichte. In dieser Zeit wurde das Werk vielfach besprochen und ihm folgte eine große Menge an medien- und kunstwissenschaftlicher Literatur.
Es ist nicht das Motiv dieser Arbeit, diese Menge zu ergänzen. Der Text Benjamins wurde deshalb als thematischer Ausgangspunkt gewählt, weil er zu einer Zeit verfasst wurde, in der, sehr ähnlich der Gegenwart, ein durch technologischen Fortschritt ausgelöster Wandel statt fand. Im Gegensatz zu Benjamin richtet diese Arbeit den Schwerpunkt jedoch nicht auf die unmittelbare Wahrnehmung von Kunstwerken, sondern auf die Nutzung von Reproduktionstechnologien, die in einer Veränderung der Wahrnehmung resultieren kann. Dazu sollen zwei Leitgedanken aus dem Aufsatz Benjamins heraus gefiltert und als roter Faden dieser Arbeit nutzbar gemacht werden.
Im Rückblick wirkt der Aufsatz Benjamins eher wie ein Versuch die klassischen „physischen“ Künste vor dem überrollenden Erfolg der damals neuen visuellen Projektionsmedien, Photographie und Film, in Schutz zu nehmen. Die Photographie und der Film haben sich jedoch im Verlauf der Moderne zu eigenen Kunstformen entwickelt und sich neben den klassischen Kunstformen in einem Ausdifferenzierungsprozess etabliert. Diese Entwicklung folgte ganz dem Rieplschen Gesetz, das besagt, dass neu auftretende Medien die bereits bestehenden nicht ablösen, sondern sowohl die neuen als auch die alten sich nebeneinander neu ordnen.
Dieser Prozess wurde auch von Clement Greenberg am Rande beschrieben, als er die Malerei der Moderne von den realistisch abbildenden Kunstformen durch ihre selbstreferentielle Flächigkeit abgrenzte. Weil sie ihre Hauptfunktion als Abbildungspraxis an die Photographie verloren hatte, war sie dazu gezwungen, sich in einem Prozess der Selbstreflexion neu auszurichten. Es hätte also eigentlich gar keinen Grund für Benjamin geben müssen, die Photographie und den Film als Konkurrenz zur klassischen Kunst zu betrachten, aber so lässt sich aus dem Blick der Geschichte leicht argumentieren.Vom heutigen Stand der Medienwissenschaft aus gesehen, ist Benjamins Aufsatz überholt. Doch auch wenn sich Benjamins Befürchtungen nicht bewahrheiteten, haftet dem Aufsatz auch heute noch eine intuitive Richtigkeit, eine unterschwellige Gültigkeit an. Vermutlich ist diese unbewusste Zustimmung ein Ausdruck der Sehnsucht nach etwas Originalem, Individuellen, in einer Zeit, in der sich die Reproduktionspraxis in jedem Bereich des Lebens etabliert hat. Alles ist reproduzierbar geworden. Kunst, Musik, Bilder, Texte, Gedanken, Ideen und sogar der Mensch selbst ist theoretisch reproduzierbar geworden, in dem das menschliche Genom entschlüsselt wurde. Benjamin sah die Gefahr jedoch weniger in der Reproduktion selber, sondern viel mehr in der Wahrnehmung der reproduzierten Gegenstände. Von besonderem Wert bei der Kunstrezeption war ihm der nachhaltige Effekt auf den Einzelnen. Kunstrezeption habe den Sinn, dem Menschen als eine Vorstufe zum Glück zu dienen. Dazu sei jedoch die unmittelbare Auseinandersetzung mit dem real im Raum präsenten Kunstwerk notwendig. Das In-Bezug-Setzen zum Werk, zum Rest der Welt und das Wissen um dessen Originalität, seien die Grundlagen für einen assoziativen Raum, der die Kontemplation des Betrachters fördere und ihm so als Schritt zum Glück dienen könne. Allein die Aura des Originals sei in der Lage dazu, diesen Raum für den Menschen zu erschaffen.
Die durch die Photographie und den Film entwickelte Reproduktionstechnologie kann Benjamin zufolge die Aura des Originals jedoch nicht mehr mit übertragen. Durch den Reproduktionsprozess geht die Aura verloren, weil die Photographie und der Film eine Sicht auf die Welt ermöglichen, die den assoziativen Raum zerstört. Diese Sicht entsteht durch die Schnitttechniken des Films, durch Einstellungsgrößen, Beschleunigungen und Verlangsamungen, welche die Wirklichkeit förmlich sezieren. Der Verlust dieses assoziativen Raumes ist für Benjamin ein Verlust, der sich auf die Wahrnehmungsgewohnheiten auswirkt und folglich auf die der gesamten Gesellschaft. An dieser Stelle ist eine gewisse Vorsicht mit der Verwendung der Begriffe Verlust und Wirklichkeit notwendig, denn der Gebrauch verwischt deren Aussagekraft. Denn je höher der Grad an wirklichkeitsgetreuer Abbildung, desto größer der Verlust des Assoziativen und desto größer der Verlust der Wirklichkeit bzw. der sich in der unmittelbaren Realität des Originals ereignenden Kunstrezeption. Die Photographie und der Film sind dazu imstande, die Wirklichkeit (nahezu) verlustfrei wiederzugeben Daher kommen der Photographie und dem Film nach Benjamin auch nur eine „Vermittlerrolle“ zu.
Doch Benjamin selber soll nicht zum Untersuchungsobjekt dieser Arbeit gemacht werden. Sein Aufsatz wurde gewählt, weil seit der allgemeinen Nutzung von digitalen Technologien ein gesellschaftlicher Wandel beobachtbar ist, der sich ähnlich jenem zu Benjamins Zeit verhält: Mit dem Ende des vergangenen Jahrhunderts tauchte mit dem Internet ein neuartiges, im Vergleich zum Film und zur Photographie sehr junges Reproduktionsmedium auf, das zu einer folgenreichen Veränderung der Mediennutzung der Menschen führte, die sich zwar jetzt schon beschreiben, aber noch lange nicht in ihrer Auswirkung sicher prognostizieren lässt.
Benjamins Aufsatz ist für diese Untersuchung deshalb von Vorteil, weil die Geschichte zeigt, dass der Untersuchungsschwerpunkt für eine Auseinandersetzung mit den Reproduktionstechnologien der heutigen Zeit ein anderer sein muss als derjenige Benjamins. Er konzentrierte sich auf die Art und Weise wie sich die individuelle Rezeption der neuen Medien im Verhältnis zu den alten Medien verhielt. Dies allerdings aus der Perspektive eines Rezipienten, der den Umgang mit den neuen Medien kaum gewohnt war und deren Verwendung nicht ein allgemeiner Bestandteil der Medienrezeption darstellte. Sämtliche Generationen nach ihm, die mit den Medien Film und Photographie aufwuchsen, hatten ein völlig anderes Verständnis zu deren Verwendung und Wahrnehmung. Ein ähnliches Gefälle wird es zwischen der Generation geben, die nicht mit den digitalen Reproduktionsmedien und dem Internet aufwuchs, und derjenigen Generation, für welche die Computer- und Internettechnologie eine Selbstverständlichkeit darstellt.
Die Wahrnehmung von Medien folgt der Nutzung der Medien. Und deshalb sollte der Untersuchungsschwerpunkt der modernen Reproduktionstechnologien auf den Nutzungsgewohnheiten und nicht auf den Wahrnehmungsgewohnheiten liegen. Der für diese Arbeit maßgebliche Leitgedanke Benjamins ist also zunächst einmal die Feststellung, dass gegenwärtig ein Wandel aufgrund einer neuen Art von Reproduktionstechnologie erfolgt. Anknüpfend ist es notwendig zu überprüfen, auf welche Art und Weise die Reproduktionstechnologien derzeit genutzt werden. Die Mediennutzung wird dabei anhand eines Medienprodukts untersucht, das ebenfalls aufgrund der neuen Technologien einen Wandel erlebte: die TV-Serie.
Ein zweiter Gedanke, der aus Benjamins Arbeit extrahiert werden soll, ist das Verhältnis zwischen einem Original und seiner Kopie. Denn entgegen Benjamins Befürchtung, den Bezug zu der Originalität eines Werks würde der Rezipient spätestens dann verlieren, wenn die Reproduktionstechnologie dazu imstande wäre, ein Gemälde verlustfrei zu reproduzieren, macht sich ein zunehmendes Interesse am Original bemerkbar. Dieses Interesse kommt in einer gesteigerten Mystifizierung von traditionellen Analogmedien zur Geltung. Röhrenverstärker, 35mm Photographie und Super 8 Projektoren werden aus Kellern und Speichern ausgegraben und reaktiviert. Obwohl seit vielen Jahren keine Super 8 Kameras mehr hergestellt werden, hält sich (vor allem dank des Internets) eine kleine, emsige Gemeinde an 8mm Amateurfilmern, welche nicht daran denkt, die analoge Filmerei aufzugeben. Genauso wenig ist die Langspielplatte gewillt auszusterben. Noch nie zuvor wurden so viele Langspielplatten und Plattenspieler verkauft wie im vergangenen Jahrzehnt.
Ob dieser Trend aber nostalgischen, mystifizierenden oder distinguierenden Motiven folgt, ist hier erst einmal sekundär. Jede Spielart dieses Interesses folgt einem einfachen Prinzip, das nahezu an Ideologie grenzt: Je schwieriger es ist, ein Original zu reproduzieren, desto mehr steigert sich dessen Wert. Das zeigen schon die Preise von Kunstmärkten, wo Gemälde im Vergleich höhere Werte erzielen als Photographien. Gerade der Wert von Kunstwerken hängt mit deren Originalität zusammen. Je mehr Kopien (oder Duplikate) eines Kunstwerks herstellbar sind, desto geringer fällt in der Regel der Wert eines Kunstwerks aus.
Von diesem rein technischen oder materiellen Trend abgesehen, erreicht die Mystifizierung des Originals eine ganz andere, nicht-materielle Ebene: die sprachliche. Die Reproduktionstechnologie sorgt für eine allgegenwärtige Präsenz und Verfügbarkeit fremdsprachiger Kulturgüter. Diese Präsenz ruft ein Interesse an originalsprachigen Fassungen von Kulturgütern hervor, das sich auf die breite Massen an Rezipienten überträgt; besonders englischsprachige Fassungen stehen dabei im Vordergrund. Dieses Interesse, das in fremdsprachig versierten Konsumentenkreisen schon immer existierte, bekommt durch den technologischen Fortschritt und den gesellschaftlichen Wandel einen Auftrieb und ist aus der gegenwärtigen Medienrezeption nicht mehr wegzudenken. Doch der mit der Mystifizierung des Originals verbundene Konsum entsteht aus dem Glauben heraus, einen mit der Übersetzung unumgänglichen „Verlustfaktor“ umgehen zu können. Das Problem dabei ist, dass die Rezeption von originalsprachigen Kulturgütern bei mangelhaften Kulturkenntissen meist mit einem Bedeutungsverlust verbunden ist, weil die Einbindung des Werks in die Bedeutungszusammenhänge der eigenen Kultur des Rezipienten ohne Übersetzung verloren geht.
Die TV-Serie stellt für diese Untersuchung ein sehr gut geeignetes Medienprodukt dar, weil sich die Mediennutzung der Konsumenten leicht beobachten lässt und weil sie sich durch viele Nutzungs- und Rezeptionstechnologien erstreckt. Natürlich gelten viele Beobachtungen nicht allein für die TV-Serie, sondern oft auch analog für Spielfilme und andere Medienprodukte. Doch es haben sich auf dem Feld der TV-Serienproduktion und -rezeption enorme Veränderungen ergeben, welche dazu führen, dass die TV-Serie seit 2006 das am meisten konsumierte Medienprodukt in den meisten Ländern der Welt ist. Dieser Siegeszug hat natürlich mehrere Ursachen.
Was diese Arbeit aber verdeutlichen soll, ist, dass die digitale Reproduktionstechnologie die ausschlaggebende Ursache für die Veränderung der Mediennutzung und -rezeption ist. Der Untersuchungsschwerpunkt dieser Arbeit liegt also auf den modernen Reproduktionstechnologien, auf deren Anwendung und auf dem durch sie verursachten Wandel. Und anschließend darauf, was dieser Wandel für die heutige Übersetzungspraxis zu bedeuten hat.