Wie jedes Jahr war ich zur Computermesse nach Köln gekommen, um alte Freunde aus der Szene zu treffen. Ich wanderte durch die Messehallen und hielt Ausschau nach bekannten Gesichtern.
Früher hatte mich dabei immer ein gewisse Vorfreude begleitet, diesmal war es anders. Ich war unzufrieden mit mir selbst. In letzter Zeit hatte ich ein paar herbe Enttäuschungen wegstecken müssen und begann allmählich dem ewigen Vorwurf meiner Eltern, dass ich mir mein Leben durch den Computer versauen würde, Glauben zu schenken. Aufgrund meiner Computersucht, der ich mir mittlerweile selbst bewusst war, und den daraus resultierenden schwachen Leistungen an der Uni, waren meine Zukunftsperspektiven alles andere als rosig. An einen Abschluss meines Informatikstudiums war nicht zu denken. Irgendwie verachtete ich die Szene. Ich machte sie insgeheim mitverantwortlich dafür, dass ich nicht vorwärts kam. Ein Streit mit meinem besten Freund Florian, mit dem ich meinen Fanatismus für Computer teilte, machte die Situation nicht eben einfacher. Ich wusste nicht einmal mehr, wer diesen Streit vom Zaun gebrochen hatte. Wir hatten uns gegenseitig vorgeworfen, nichtsauf die Beine gestellt zu bekommen. Anscheinend war das für uns beide ein wunder Punkt. Zwar machte mich meine langjährige Zugehörigkeit zur Szene zu einem Teil der sogenannten „Elite“, aber Florian meinte, ich solle mir deswegen bloß nichts vormachen. Ständig musste ich mir auch von anderen anhören, dass die Erfahrung, die ich im Laufe der vielen Jahre in der Szene gesammelt hatte, in der freien Marktwirtschaft gegen ein abgeschlossenes Informatikstudium nur wenig wog. Sämtliche Versuche, mit unterschiedlichen Szenemitgliedern eine Computerfirma zu gründen, blieben schon im Ansatz stecken. Ich konnte tun und lassen, was ich wollte, irgendwie kam ich auf keinen grünen Zweig.
Das Seminar von Günter Freiherr von Gravenreuth, einem bekannten Rechtsanwalt in Sachen Computerrecht, der immer wieder durch seine umstrittenen Methoden für Schlagzeilen sorgte, sollte um 16:00 Uhr in einem Seminarraum am Rande der Messe stattfinden. Obwohl ich zwanzig Minuten früher eintraf, waren bereits alle zweihundert Plätze fast ausschließlich von Scenern besetzt. Viele Szenemitglieder hatten schon einmal Ärger mit dem Gesetz und damit auch mit Gravenreuth gehabt. Trotzdem konnte ihn keiner von uns so richtig hassen. Ich wusste nicht recht, woraus diese Hassliebe resultierte. Vielleicht lag es an seiner freundlichen und scheinbar hilfsbereiten Art. Zwar war das für mich nicht nachvollziehbar, aber von einer gewissen Faszination konnte auch ich mich nicht ganz freisprechen.
Aufgrund des hohen Lärmpegels hätte man meinen können, der aus allen Nähten platzende Raum wäre von einer Horde aufgebrachter Demonstranten besetzt worden. Man konnte das Grölen und Brüllen durch alle Ausstellungshallen der Computermesse hören. Ein paar Szenemitglieder hatten sich barfuß oder in zerfetzten Klamotten unter grimmig schauende Geschäftsleute und seriöse Journalisten gemischt. Andere trugen Gesichtsbemalungen, Gas- oder Totenkopfmasken und besudelten ihre ohnehin schon verdreckten T-Shirts zusätzlich mit Dosenbier. Früher hatte ich für dieses computeranarchistische Verhalten Sympathie empfunden. Mittlerweile erschien es mir nur noch albern und pubertär. „Versager“, dachte ich mir und zählte mich insgeheim selbst dazu. Ich zwängte mich durch die nach Alkohol und Schweiß stinkende Menge und fand den Sitzplatz, der von Mitgliedern meiner Gruppe für mich freigehalten worden war. Die Sicht ließ ein wenig zu wünschen übrig. Ein zwei Meter großer Taugenichts saß mit einem piepsenden Gerät in der Hand genau vor mir. Auf dem Gerät klebte das Siegel der deutschen Post, über das er irgendetwas mit Filzstift gemalt hatte. Als ich auf das untalentierte Gekritzel deutete und fragte, was das darstellen solle, antwortete er prompt:
„Bluebox! Das Gehäuse habe ich mal einem Typen auf einer Party abgekauft. Das Ding stammt wohl aus den ersten Phreaker-Zeiten. Ich hab es nachträglich mit einem C64-Soundchip aufgerüstet und selbst layoutet. Das Ding hat über hundert Standard-Frequenzen gespeichert. Damit kannst du fast alle analogen Lines braken, die keine Filter haben. Du kannst auch selbst die Frequenzen composen und abspeichern.“
Müde lächelnd zog ich die Augenbrauen hoch. Anscheinend hatte der völlig verblödete Phreaker meine Frage falsch verstanden. „Ich meine das da!“, wiederholte ich, mit beiden Zeigefingern auf das Gekritzel deutend.
„Totenkopf“, murmelte er.
„Klasse!“, nickte ich. Ein Picasso war nun wirklich nicht an ihm verloren gegangen, doch das brauchte ihn nicht weiter zu beunruhigen. Sein Talent lag wohl eher auf anderen Gebieten als der bildenden Kunst. Mit einem hastigen „Es geht los!“ wandte er sich von mir ab. Es kam mir vor, als hätte sich der Lärmpegel von einem Moment zum nächsten verdoppelt. Gravenreuth harte sich an das Rednerpult begeben. Er begrüßte sein Publikum und begann sofort irgendwelche Geschichten zu erzählen. Er liebte es, im Mittelpunkt zu stehen. Die Menge, die ihn umzingelt hatte, entsprach anscheinend genau seinen Vorstellungen von Publicity. Ich redete mir ein, mich nicht dafür zu interessieren. Er erzählte stolz, wie er eine private Board namens „Rainbow BBS“ aufgrund einer Namensverwechslung mit einer gleichnamigen Softwarefirma erfolgreich abmahnen konnte. Jedes Jahr dieselben Geschichten. Allmählich begann mich die Begeisterung der Leute für ihn anzukotzen. Seine Ausführungen wurden bei jedem zweiten Satz von lautem Gelächter begleitet. Zusammengeknüllte Werbebroschüren, CDs und Merchandising-Artikel flogen als Ersatz für faule Tomaten durch den Seminarraum. Zwar trafen sie nicht unbedingt immer die Person, der sie galten, dafür prasselten sie dem einen oder anderen Journalisten in kurzen Intervallen auf den Kopf. Gravenreuths versteinertes Grinsen verschwand nicht für eine Sekunde aus seinem Gesicht. Er erzählte und erzählte. Er hätte wahrscheinlich auch noch weitererzählt, wenn direkt neben seinem Rednerpult eine Bombe explodiert wäre. Als er den Namen „Kimble“ erwähnte, ging ein lautes Raunen durch den Saal. Die Szene warf Kimble vor, sie verraten zu haben. Nachdem die Polizei ihn erwischt hatte, hatte er Namen und Adressen verschiedener Szenemitglieder in hohen Positionen preisgegeben, um seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. „Gut gelöst“, dachte ich und war mir sicher, dass ich in einem solchen Fall genauso gehandelt hätte. Im Gegensatz zu den Computeranarchisten um mich herum hatte dieser fette Kimble immerhin genug auf seinem Konto, um jeden, der ihm Verrat vorwarf, auszulachen. Letzten Endes dreht es sich sowieso nur ums Geld.
Nach Gravenreuths Rede stürmte eine Meute von Szenemitgliedern auf ihn zu und bombardierte ihn mit Fragen und Aufklebern ihrer Groups. Irgendein Typ schaffte es, in dem Chaos unbemerkt Gravenreuths Rücken mit einem Edding zu bepinseln. Die Menge war entfesselt. Für einen kurzen Moment blickte mich Gravenreuth mit einem freundlichen Lächeln an. Er kannte mich, so wie er nahezu jedes Szenemitglied kannte. Ich war mir jedoch nicht sicher, warum er sich gerade mein Gesicht eingeprägt hatte. Bestimmt nicht weil er wusste, dass ich illegal agierte, denn das taten die meisten von uns. Es musste etwas anderes sein. Unterschriften auf Mousepads, CDs, Gesichter und selbst auf fette Bierbäuche verteilend, kämpfte er sich, noch immer grinsend, den Weg frei. Mit einer halben Stunde Verspätung überließ er dem nächsten Redner das völlig zugemüllte Pult. Ich gab mir einen Ruck und schnappte mir auch ein Stück von Gravenreuth: seine Visitenkarte.
Der Einstieg
Als ich den Computer ausschaltete, holte mich meine innere Unruhe wieder ein. Ich schaute auf die Uhr und sah, dass ich eigentlich schon vor Stunden den Ausschalter des Rechners hätte finden sollen.
Meine Leistungen im Studium litten mehr denn je unter meiner Sucht. Dennoch verspürte ich keinerlei Lust, das Defizit aufzuholen. Ganz andere Dinge dominierten meine Gedanken. In einer knappen halben Stunde würde meine Vorlesung beginnen. Trotzdem entschied ich, mich nicht darum zu kümmern, und blickte übermüdet in meinem Zimmer umher. Die Wäsche stapelte sich seit Wochen auf der Kommode. Bücher und Computerteile lagen kreuz und quer auf dem Boden verstreut und bildeten nicht ungefährliche Stolperfallen. Neben dem bekannten Aufkleber „Don’t spread illegal copies, Gravenreuth is watching you“ dem ich einen Ehrenplatz an meiner Wand vermacht hatte, war nun auch die Visitenkarte des Anwalts angebracht. Ich versuchte mir ein klareres Bild von dem Menschen zu machen, der eigentlich mein Feind war und trotzdem solch eine faszinierende Ausstrahlung hatte. Ich musste an einige Freunde denken, die in ihrem Leben nichts anderes kannten, als die Szene. So wie ich bis vor kurzem. Mit vielen von ihnen hatte ich mich in letzter Zeit hoffnungslos zerstritten. Mir wurde immer klarer, dass ich trotz der endlos langen Zeit in der Szene keinen Platz mehr in ihr hatte. Ich durfte nicht auch so enden, redete ich mir ein.
Ich griff zum Telefon und wählte die Nummer des Anwalts. Eine Sekretärin nahm an und fragte mich nach der Aktennummer. Als ich ihr und auch mir selbst zu erklären versuchte, aus welchem Grund ich anrief, wurde ich sofort mit Gravenreuth verbunden. Schon vor der Messe hatte ich sein Interesse an meiner Person bemerkt. Auch auf Parties und anderen Veranstaltungen hatte er mich mit diesem vertrauten Blick angelächelt. Was dieser Blick zu bedeuten hatte, sollte sich in den nächsten Sekunden herausstellen.
„Guten Tag“, sagte ich. „Um gleich auf den Punkt zu kommen, Ich wollte Sie fragen, ob Sie an Nummern von gewissen Boards interessiert sind.
Meine Gelassenheit erschreckte mich. Immerhin hatte ich allein schon mir diesem Anruf den Szenecodex gebrochen. Gravenreuth atmete kurz, fast schon asthmatisch ein und aus. „Ja! „, gab er trocken von sich.
Meine Coolness verwandelte sich in Sprachlosigkeit. Eine so direkte und deutliche Antwort hatte ich nicht erwartet. Mein Zögern weitete sich zu einer peinlichen Pause aus, „Flucht nach vorn“, schoss es mir durch den Kopf.
„Nun, ich habe hier einige Nummern. Sie wissen schon. Gewisse Boards und Boards, die Warez anbieten.“
„Über Beträge kann ich mit Ihnen natürlich nicht jetzt am Telefon reden“, unterbrach er mich. Er harte derartige Gespräche schon zu oft geführt, als sich in unnötiges Geschwätz verwickeln zu lassen. Er fuhr fort: „Das müssten wir schon persönlich regeln. Das beste wäre, natürlich nur wenn es Ihnen nichts ausmacht, wir treffen uns in einem Café. Ich bin oft unterwegs und komme viel herum. Darf ich fragen, woher Sie anrufen?“
„Hamburg!“
„Also ich hin in den nächsten Wochen wieder in Hamburg, da komme ich oft vorbei, dann könnten wir uns kurz treffen. Kennen Sie ein gutes Café?“
Ich erklärte ihm, dass dies etwas schwierig sei: Immerhin kannte man mich in der Stadt. Nicht auszudenken, wenn mich ein Szenemitglied mit ihm in einem Lokal bei einem Bier sitzen sehen würde.
Gravenreuth lachte kurz auf und sagte: „Das verstehe ich natürlich. Also, da ich erst in zwei Wochen wieder in Hamburg bin, schlage ich vor, dass Sie bis dahin schauen, wo man sich treffen könnte, und rufen mich dann wieder an. Was glauben Sie, wie viele Boards Sie haben?“
Ich überschlug die Zahl im Kopf, meine Finger reichten nicht aus.
„Ich habe einige. Ich könnte Ihnen, sagen wir, zwanzig Boards nennen, die randvoll mit Warez sind, ich bin schon lange in der Szene und kenne mich bestens aus.“
„Das glaube ich Ihnen“, erwiderte er und fuhr fort: „Also in zwei Wochen können wir uns treffen. Ich schlage vor, Sie rufen mich bis dahin wegen des Treffpunktes an. Gut wäre es, wenn Sie ein Capture von einigen Boards mitbringen könnten.“
Ich willigte ein. Gravenreuth gab mir noch die Nummer seines Mobiltelefons und hängte mit einem knappen „Danke“ ein. Das Gespräch hatte nicht länger als zwei Minuten gedauert. Dass er mir sogar seine Mobilnummer anvertraute, wusste ich nicht einzuordnen. Ich wusste nicht, ob es Vertrauen, Instinkt oder Routine war.
Man sieht sich
Nur wenige Meter vor mir befand sich eine große Standuhr, die jede Minute ein deutlich hörbares Klicken von sich gab. Darauf starrend wartete ich ungeduldig auf das Erscheinen des Anwalts in dem vereinbarten Bistro. Bei der Überlegung, welcher Ort sich als Treffpunkt eignen könnte, war ich in Hamburg von einem Café zum nächsten geirrt, bis ich dieses kleine abgelegene Bistro gefunden hatte, das mir für ein Treffen sicher genug erschien. Ich konnte es noch nicht so recht fassen. Jeden Augenblick sollte Gravenreuth zur Tür hereinmarschiert kommen, und ich würde einen Pakt mir dem Szenefeind Nummer Eins schließen. Aber es gab kein Zurück mehr. Vor mir auf dem Tisch lag mein dreißig Seiten schwerer Ausdruck, randvoll bepackt mit dem Capture eines Ami-Express-Boards. Die Tür ging auf und Gravenreuth kam mit seiner Aktentasche den langen schmalen Gang auf mich zu. Er hatte mich gleich erkannt. Er reichte mir kurz die Hand und setzte sich. Eine fürchterliche Aufregung überkam mich und hätte mich fast dazu getrieben, die Sache abzublasen. Ich versuchte sie mit aller Kraft zu unterdrücken. „Keine halben Sachen mehre, redete ich mir ein. Ein europaweit bekannter Staranwalt, dessen Aktionen immer mit Schlagzeilen verbunden waren, saß nun vor mir – einem Computerkriminellen.
„Sie hätten mir ja sagen können, dass hier vorne eine Einbahnstraße ist. Ich musste um den ganzen Block herum und habe dann keinen Parkplatz gefunden.“
Nach unseren Telefonaten hätte ich nicht gedacht, dass Gravenreuth zu so etwas wie Small Talk fähig gewesen wäre. Meine Unsicherheit überspielend ging ich darauf ein.
„So kann es gehen“, sagte ich. „Also gut, ich habe die Ware, haben Sie das Geld?“
Gravenreuth zeigte ein müde amüsiertes Lächeln. Das Eis war nicht zu brechen. Ich räusperte mich und gab ihm das Capture, das er sehen wollte.
Er setzte seine Brille auf, schaute es sich an und blätterte darin herum. Es war nicht schwer zu erkennen, dass er nichts von dem, was darin stand, verstehen und lesen konnte. Wie es in Boards üblich ist, war alles in einer graffiti-ähnlichen Schrift geschrieben. Ich verstand zum ersten Mal den Schutz, den diese elitäre Gestaltung gewährte.
„Können Sie das überhaupt lesen?“, fragte ich überheblich.
„Ich konnte mal, aber die Zeiten sind vorbei“, sagte er und rückte seine Brille auf der Nase zurecht. „Es reicht ja auch, wenn es meine Testbesteller können.“ Er blickte mich verheißungsvoll an. Anscheinend gefiel ihm das Capture.
„Ich habe noch mehr“, sagte ich und hielt ihm eine CD unter die Nase, auf der sich weitere Captures von Boards befanden.
„Mein Laptop ist im Wagen, ich hol ihn mal“, sagte er und ging hinaus.
Mit einem Laptop unter dem Arm, kam er nach kurzer Zeit wieder. Dann überprüfte er den Inhalt der CD akribisch. Er kam mir vor wie ein Drogendealer, der Kokain noch einmal auf Waschmittel hin überprüft, bevor er zum geschäftlichen Teil übergeht.
„Also gut“, sagte er dann endlich, „ich erkläre Ihnen, wie wir das machen. Es gibt eine bewährte Methode, die keine Probleme bereitet. Sie tragen sich in ein Board unter falschem Namen A ein. Dieser falsche Name A empfiehlt dann einen anderen User B. Mit dem User B wird das Board dann gebustet. So bleiben Sie selbst völlig anonymn.“
Diese Geschichte mit A und B empfand ich als etwas umständlich. Es ging doch viel einfacher: Eintrag mit falschem Namen, Zugriff und fertig. Seine Erklärung machte den Eindruck, als sei das Busten von Boards nach einer streng formalen Vorgehensweise reglementiert und damit rechtens. Ich machte mir nicht viel aus dieser A-B-Geschichte. Die Hauptsache war, dass ich ihm die Zugänge zu den heiß begehrten Warez verschaffte.
„Wie stellen Sie sich das mit der Bezahlung vor?“, fragte er mich dann überraschend.
Ich grübelte. Ich hatte überhaupt keine Idee, was für eine Zahl ich ihm nennen sollte und rechnete mit mehreren Unbekannten vor mich hin. Gerüchten zur Folge bekamen Leute von Gravenreuth tausend-fünfhundert Euro pro hochgegangenem Board. Ich war in mehr als zwanzig Boards eingetragen, in denen man Warez in Massen finden konnte. Das wären dreißigtausend Euro innerhalb nur weniger Stunden gewesen. Dieser Betrag konnte einfach nicht stimmen. Zweihundert Euro erschienen mir da doch schon viel realistischer. Ich entschloss mich mit meinen Forderungen nicht unter zweihundert Euro zu gehen. Dennoch wollte ich jetzt nicht zweihundert Euro vorschlagen und mir damit durch ein einfaches „Ja“ mehr Geld entgehen lassen. Gravenreuth beobachtete mich bei meiner Herumdruckserei. Dann ergriff er schließlich die Initiative.
„Hundertfünfzig Euro pro Board“, gab er von sich.
Ich war platt. „Hundertfünfzig Euro nur?“, rief ich: „Nein, zweihundertfünfzig, nicht weniger!“
„Glauben Sie nicht, dass zweihundertfünfzig Euro etwas zu viel sind?“, antwortete er.
„Absolut nicht. Ich schätze die Arbeit, die ich hier machen soll, als gefährlich und anspruchsvoll ein, zudem weiß ich auch um meine Kompetenzen“, argumentierte ich.
„Das glaube ich Ihnen“, versuchte er mich zu beschwichtigen und sagte weiter: „Und ich bin auch völlig überzeugt, dass Sie gute Arbeit leisten werden.“
„Gut“, unterbrach ich, „dann werden Sie verstehen, dass meine Vorstellungen realistisch sind.“
Gravenreuth erklärte mir, dass er im Grunde nur hundert Euro oder sogar weniger an seine Testbesteller zahle. Ich wollte nicht lockerlassen und schlug ihm einen Kompromiss vor. Er schmetterte jedoch ab: „Da sehe ich keine Möglichkeit. Ich biete Ihnen hundertfünfzig Euro.“
„Der Preis ist nicht akzeptabel. Nennen Sie mir einen anderen“, stieß ich mit einem energischen Kopfschütteln hervor. Gravenreuth hob seine Hände zu einer abschließenden Geste: „Dann ist da nichts zu machen.“
Mit meiner Dreistigkeit hatte ich bislang meistens Erfolg gehabt. Doch bei Gravenreuth stieß ich auf Granit. Es blieb mir nichts anderes übrig als meinen Ton zu ändern und einzuwilligen.
„Gut“, sagte er ungerührt, „wenn es Probleme oder Fragen geben sollte, rufen Sie an und wir treffen uns. Wir werden das Ganze vertraglich absichern. Sie sehen, alles hat hier seine Richtigkeit.“ Ich fühlte mich dadurch nicht sonderlich beruhigt. Korrektheit hatte noch nie einen wirklichen Wert in meinem Leben gehabt.
Accounts, Accounts, Accounts
Nach weniger als drei Wochen bekam ich den Vertrag zugesandt. Daraus ging alles Nötige hervor, und der Tat stand nun nichts mehr im Weg. Ein weiterer Rechtsanwalt aus der Kanzlei, den alle Benni nannten, instruierte mich ausführlich und erklärte mir am Telefon, wie ich den Weg für eine reibungslosen Auszahlung meines Honorars ebnen sollte, indem ich ein Gewerbe gründete. Ich ging also ins Bezirksamt und meldete ein Gewerbe als Testbesteller an. Den Vertrag von Gravenreuth und seinem Partner Benni schickte ich unterschrieben zurück. Jetzt war ich also ein Buster.
Tag für Tag setzte ich mich mit einer völlig neuen Motivation vor den Computer. Das Modem war nicht mehr der Grund für die unbezahlbaren Telefonrechnungen, die mir monatlich ins Haus flaterten. Es verwandelte sich über Nacht in einen Goldesel. Meine Arbeit begann zunächst einmal damit, einige Elite Systeme auszuwählen, die ich als Stützpunkte meiner Aktivitäten missbrauchte. Dort etablierte ich mich als fleißiger Benutzer und schraubte meine Zugriffsansprüche in die Höhe. Die Betreiber dieser Systeme konnten sich glücklich schätzen, da ich ihre Boards als eine Art Hauptquartier und Basis benötigte und sie daher verschonte.
Um die Arbeit wirklich effizient zu gestalten, legte ich mehrere Ordner an und begann mich zu organisieren. Zunächst sammelte ich Mitgliederlisten von eingetragenen Benutzern illegaler Boards. Darüber hinaus erstellte ich für jedes wichtige Mitglied ein eigenes Profil mit seinen jeweiligen Zugangsberechtigungen und Aufgabenbereichen in der illegalen BBS-Szene. Dann trug ich mich unter ihrem Namen in Systeme ein, in denen sie nicht vertreten waren.
Der Computer entwickelte sich zu einer Art geheimen Winkel meines Gehirns: Ich programmierte eine komplexe Datenbank, die mir mit wenigen Handgriffen ermöglichte, Namen, Pseudonyme und Referenzen einzelner Softwarepiraten in Sekundenschnelle auf den Bildschirm zu rufen. Das war vor allem dann sehr nützlich, wenn man in ein Gespräch mit einem Systemoperator geriet und im Chat plötzlich mit kritischen Fragen konfrontiert wurde. Fragte man mich beispielsweise, ob ich ein Szenemitglied namens „Slaver“, kenne, konnte ich spontan amworten, aus welchen Boards und Chats er mir ein Begriff war und in welchem Interessenaustausch ich mit ihm stand. So war es ein Leichtes, Referenzfragen zu meistern und damit das eindeutige und so wichtige Vertrauen des Systembetreibers zu gewinnen. Dieser konnte mich dann mit den nötigen Passwörtern und Zugriffen zu seinem und oft sogar auch zu anderen Systemen versorgen.
Meine Liste mit Zugangscodes zu illegalen Boards in meiner Umgebung wuchs von Tag zu lag. Jeden dieser Zugänge schickte ich zusammen mit einer Rechnung an die Kanzlei. Nach wenigen Monaten trug meine Arbeit Früchte. Ich hätte meine Uhr danach stellen können. Eine Board nach der anderen schloss ihre Pforten und musste sich vor dem Gesetz verantworten. Das Gerücht machte die Runde, dass ein Kollaborateur die Szene zu demontieren versuche und ein System nach der anderen an die Polizei verriet. Ein User nach dem anderen wurde verdächtigt. Doch die Szene tappte im Dunkeln. Niemand konnte wissen, dass ich die Ursache dieser Welle war.
Nach einigen Monaten kamen die ersten für ungültig erklärten Zugänge von der Kanzlei zurück. Die restlichen wurden bezahlt. In meinem Rausch bearbeitete ich systematisch ein System nach der anderen und bemerkte dabei langsam, dass das Uhrwerk Gravenreuth & Partner doch nicht so präzise tickte, wie ich gedacht hatte.
Viele Zugänge waren nach vier Wochen wieder ungültig geworden, weil sich das Systempasswort geändert hatte oder das Mitglied wegen Untätigkeit von den illegalen Systembetreibern aus den Systemen hinausgeschmissen wurde. Die zuständigen Sachbearbeiter der Kanzlei waren schlichtweg zu langsam, sodass nur bei jedem zweiten von mir aufgezeigtem System der illegale Vertrieb von rechtlich geschützter Software mit Erfolg nachgewiesen werden konnte. Mein Eifer konnte dadurch nicht gebremst werden, und ich machte in gewohnter Form weiter.
Ich träumte davon, jedes in Deutschland existierende System dem Erdboden gleichzumachen. Nach einigen Monaten schließlich, nachdem fast jede illegale BBS in Hamburg entweder von der Polizei belangt oder aus Angst selbstständig geschlossen worden war, entschied ich einen Schritt weiter zu gehen: Ich begann Ausschau nach Systemen außerhalb Hamburgs zu halten.
Ich nutzte jede Gelegenheit, um an Passwörter zu gelangen. Ich empfand sie mittlerweile als Platzhalter für Bargeld. Es reichte ein Wort – manchmal bestand es nur aus vier Buchstaben, und mein Konto füllte sich mit weiteren hundertfünfzig Euro. Natürlich ergaben sich für mich auch zufällige Möglichkeiten, an Passwörter zu gelangen. Als ich eines Tages mit Freunden und einem Kasten Bier bei einem bekannten Szenemitglied zu Besuch war, bot er mir seine Festplatte zum Verkauf an. Da sich die vielen selbst entwickelten Hackprogramme auf meinem Computer den spärlichen Platz mit den mittlerweile zu einem Telefonbuch angewachsenen Lebensläufen und Passwörtern teilen mussten, ging ich erfreut auf das Angebot ein.
Als ich die vom Vorbesitzer gelöschte Festplatte an meinen Rechner anschloss, kam mir spontan eine Idee. Ohne lange nachzudenken startete ich ein Programm, das gelöschte Dateien wiederherstellen konnte. Nach einigen Stunden harte ich eine ausführliche Liste mit allen Passwörtern meines „guten“, Freundes. Dieser Geistesblitz ermöglichte es mir, ein ganzes Paket mit über zehn Zugriffen an die Kanzlei zu schicken und gnadenlos abzukassieren.
Mittlerweile hatte ich jegliche moralische Bedenken über Bord geworfen. Ich brauchte mich schon lange nicht mehr damit zu beruhigen, dass ich nun wenigstens auf der vermeintlich richtigen Seite des Gesetzes stand. Ich verbannte einfach alles aus meinem Kopf, was mein Vorgehen hätte blockieren können. So war es durchaus keine Seltenheit, dass ich Szenemitgliedern einen Besuch abstattete, dann in einem unbemerkten Augenblick deren Festplatten durchforstete und mir die Zugänge auf auf einen Datenträger kopierte. Ich musste dabei natürlich schnell und vor allem hemmungslos sein, denn Angst, Unruhe oder moralische Bedenken hätten mich nur zu sehr bei meinem Vorhaben behindert. Wenn jemand doch schneller als erwartet von der Toilette oder aus der Küche zurückkam, genügte nach einem Reset oft die billige Ausrede, der Computer sei abgestürzt und ich versuche ihn nun wieder hochzufahren. Szenepartys boten immer besonders viele Gelegenheiten, Zugänge zu Systemen zu ergattern. Ich setzte mich einfach an einen der vielen unbeaufsichtigten Rechner und durchkämmte sie, oft auch bei abgeschaltetem Monitor, damit es so aussah, als tippe ich bloß vor mich hin. Dazu musste ich nicht nur in der Lage sein, die nötigen Befehle blind in den Rechner einzugeben, sondern auch sämtliche Spuren, die ich hei diesen Aktionen unweigerlich hinterließ, innerhalb kürzester Zeit zu beseitigen.
Endlich konnte ich meine Fähigkeiten gewinnbringend ausnutzen. Zwar erschien ich nach außen hin immer noch als der vertrottelte Computerjunkie, aber ein Blick auf meinen Kontoauszug ließ mich diese Rolle genießen. Gravenreuth selbst rief mich immer wieder an und überrollte mich mit szenespezifischen Fragen. Diese Anrufe taten mir zusätzlich gut, spielte ich doch nun neben dem Buster auch noch die Rolle des Beraters in Sachen „Szene“. Ich konnte Gerüchte dementieren oder bestätigen, ihn über anstehende Partys unterrichten und Adressen oder Informationen besorgen. Nie jedoch fragte er mich nach der Art meiner Vorgehensweise.
Als nach ein paar weiteren Monaten unzählige Szenemitglieder mit Hausdurchsuchungen, Beschlagnahmungen und Anklagen zu kämpfen hatten, gingen mir so langsam die Systeme aus. Es blieb nur noch der harte Kern übrig: illegale Elite-Systeme der Szene, zu denen der direkte Zugang aufgrund strengster Kontrollen fast unmöglich war. Ich wusste, dass ich diese Hürden umgehen musste, wenn ich meiner Arbeit kein vorschnelles Ende setzen wollte.
In einem der elitären Systeme, die ich von Anfang an als Basis verschont hatte, bot sich mir die Möglichkeit, an Warez zu gelangen, noch bevor sie in Deutschland auf dem Markt oder in den Boards erschienen. Ich begann damit, mehrere Updates von beliebter Hilfs-software zu manipulieren, indem ich die Installationsdateien zu meinen Gunsten umprogrammierte und ein Trojanisches Pferd einbaute. Das war eine kleine versteckte Datei, die bei der Installation des eigentlichen Programms aktiviert wurde. Schließlich ließ ich meine Version des Softwareprodukts durch Kontakt-Boards in der deutschen Szene in Umlauf bringen. Als verschiedene Systembetreiber diese Updates routinemäßig installierten, begann mein Trojanisches Pferd mit seinem Galopp und konnte unbemerkt in fremden Systemen sein Unwesen treiben. Der Rest war einfach. Ich musste nur einige Wochen später die infizierten Systeme anwählen und einen bestimmen Code eingeben, damit mir mein Trojanisches Pferd die Türen des Systems von innen sperrangelweit aufriss. Damit zog ich auch die hartnäckigsten illegalen Systeme aus dem Verkehr. Übrig blieben nur noch die elitären Systeme, die ich als Basis benötigte. Die Unruhe und Angst innerhalb der Szene konnte mir nur recht sein: Man deutete mit dem Finger auf jeden, der den Namen Gravenreuth auch nur aussprach. Die plötzlich zu hunderten auftretenden Schuldigen trugen nur zu noch größerer Verwirrung bei.
Die Triton-Akte
Während andere verdächtige Buster mit Morddrohungen und obszönen Anrufen zu kämpfen hatten, erreichte mich ein weiterer Brief von Gravenreuth. Dieser Brief enthielt neben einer formellen Entschuldigung für die ständigen Verspätungen meines Honorars und der fehlerhaften Verarbeitung meiner Zugangsberechtigungen eine Einladung zu einem Geschäftsessen. Ich sagte zu und traf mich mit Gravenreuth in einem von ihm ausgewählten Lokal. Die Entschuldigung und die damit verbundene Einladung waren nur ein Vorwand, um mit mir in einer anderen Angelegenheit zu sprechen.
“ Sie haben tolle Arbeit geleistet“, klopfte er mir verbal auf die Schulter. „Ich bin sehr zufrieden mit Ihnen.“
„Ich hätte Ihnen ja viel mehr Boards ausliefern können!“, sagte ich ein wenig verärgert. „Ich weiß nicht, was für ehemalige Szenemitglieder Sie bei sich beschäftigen, aber die scheinen nichts auf die Reihe zu bekommen. Ist doch klar, dass durch die ständig verspätete Bearbeitung die Zugänge wieder ungültig werden.“
Gravenreuth versuchte mich zu beruhigen. Sätze wie „Ja, das ist klar “ oder „Verstehe ich“, gingen im Viervierteltakt über seine Lippen.
„Nun, jetzt ist die ganze Szene in Aufruhr“, sagte ich. Meine Stimme klang gespielt beunruhigt. Gravenreuth nickte betroffen, es interessierte ihn nicht im Geringsten. „Mein Name ist auch schon aufgetaucht“, log ich und dachte dabei an so etwas wie eine Gefahrenzulage.
„Hat man mir schon gesagt“, log Gravenreuth nickend zurück. „Wir versuchen unsere Testbesteller so gut wie möglich zu schützen und ihre Anonymität zu wahren, so was kann aber trotzdem passieren, wie Sie sehen.“
„Ich habe aber noch sämtliche Accounts von Systemen, in denen ich mit falschem Handle eingetragen bin. Obwohl jetzt alles ein wenig chaotischer vonstatten geht, habe ich noch vollen Zugang zur Szene und deren Informationen. Ich könnte ein wenig abwarten und dann wieder loslegen.“
„Klar, das können Sie machen“, Gravenreuth öffnete seine Aktentasche und holte einige Blätter heraus. „Aber mal etwas anderes. Sagt Ihnen der Name Triton etwas?“
Ich schüttelte den Kopf. „Ein Chipset von Intel?“, fragte ich.
„Ja, in etwa, es ist ein Motherboard-Chipsatz. Die Firma Tricon in Holland empfindet den Namen Triton als dem ihren ähnlich. Steht aber alles in der letzten Ausgabe der c’t. Ich hab Ihnen mal eine Kopie mitgebracht.“
Gravenreuth reichte mir die Kopien. Ich überflog die Blätter und zuckte mit den Schultern.
„Also“, fuhr er fort, „wir haben durch richterlichen Beschluss erreicht, dass der Name verwechslungsfähig mit Triton ist. Jeder Computerhändler, der mit diesem Namen wirbt, kann abgemahnt werden.“
„Und was heißt das für mich?“
Gravenreuth lächelte. „Sie schauen, wo Sie das Wort Triton finden und verdienen Geld, so einfach ist das. Computerhändler, Kaufhäuser, Zeitschriften – eigentlich überall, wo Werbung mit dem Namen Triton gemacht wird. Hundert Euro pro Fall gibt es dafür.“
„Hundert Euro? Das wird ja immer weniger bei Ihnen.“
„Hat ja auch mit Warez nichts zu tun. Das ist eine viel einfachere Aufgabe. Sie sehen einen Laden, der mit Triton wirbt, reingehen, rausgehen – Hundert Euro. Verglichen mit einem Stundenlohn sind Sie sehr gut bedient.“
Rein, raus, Hundert Euro. Das erinnerte mich an eine andere Berufsgruppe. Trotzdem, es klang gut.
„Abgemacht“, sagte ich. „Und was mache ich, wenn ich irgendwo in einer Zeitschrift Werbung für Triton sehe?“
„Drauf!“
„Bitte?“
„Einfach drauf!“
Ich brauchte nicht lange zu überlegen, ich hatte es begriffen.
Schnelles Geld
Drauf! Das war also mein neuer Schlachtruf. Ich machte mich gleich an die Arbeit. Ich kaufte mir am Hauptbahnhof alle Computerzeitschriften, die ich finden konnte und begann damit, die Werbeinserenten abzuklappern. Bei jeder gefundenen Triton-Werbung fragte ich sicherheitshalber noch einmal in der Kanzlei telefonisch nach, ob diese schon registriert war. War sie es nicht, verdiente ich hundert Euro.
Meine eigentliche Arbeit begann mit der aktiven Suche. Ich rief einen PC-Laden nach dem anderen an und fragte, ob sie Rechner mit dem Triton-Chipsatz im Sortiment anbieten. Viele wussten nicht einmal, wovon ich redete, und wurden kurzerhand von meiner Liste gestrichen. Die Läden, die den Chipsatz hatten, beehrte ich mit einem persönlichen Besuch. Meistens war dieser von Erfolg gekrönt, denn oft konnte ich im Laden den Namen Triton auf Preislisten, in Schaufenstern oder auf ausliegenden Werbebroschüren finden. Wie ein hungriger Wolf durchstöberte ich sämtliche Computerläden Hamburgs auf der Suche nach den goldenen sechs Buchstaben. Massenweise Beweismaterial fand durch meine Hände den Weg in die Kanzlei. Mein Honorar wurde immer zügig mit Verrechnungsschecks beglichen. Nachdem ich im Stadtgebiet fast alle Computerläden überprüft hatte, fing ich an, auch außerhalb Hamburgs auf die Jagd zu gehen. Selbst in meiner Freizeit konnte ich meine Arbeit nicht ruhen lassen. Wenn ich in einer Stadt unterwegs war, passierte es des öfteren, dass ich schnell noch in einen Computerladen hineinspazierte, Werbebroschüren einsteckte und dann wieder glücklich aus dem Laden stapfte.
Ich fragte mich, ob andere Testbesteller schon auf die Idee gekommen waren, größeren Läden oder sogar Kaufhäusern einen Besuch abzustatten. Also rief ich in der Kanzlei an, um nachzuhaken.
„Drauf!“, tönte es durch den Hörer.
„So richtig?“, fragte ich noch einmal, um sicherzugehen.
„Einfach drauf! Die großen Läden dürfen das auch nicht. Wenn Sie der Erste sind, bekommen Sie das auch angerechnet. Immer drauf!“
Obwohl diese „Hau-drauf-Masche“ von Gravenreuth mir nicht sonderlich sympathisch war, erwischte ich mich nicht selten dabei, dass ich „Drauf, drauf“ vor mich hinsummend durch die Straßen ging. Es war schon ein wenig seltsam, dass ich den Menschen, den ich mir zur Galionsfigur des legalen Szenegeistes gewählt hatte, nun als völlig neue Person erfuhr. Er war nicht mehr der nette, verständnisvolle und hilfsbereite Anwalt, der bei Seminaren lustige Geschichten erzählte und neugierige Fragen beantwortete. In meinen Augen wurde er mehr und mehr zu dem, was er wirklich war – ein Geschäftsmann, der der Härte seines Berufs vollends entsprach und für Spaß nur dann zu haben war, wenn man damit Geld verdienen konnte.
Es dauerte nicht lange und die Neuigkeiten verbreiteten sich wie ein Lauffeuer. Plötzlich wusste jeder Händler um die Probleme, die der Name Triton in Schaufenstern und Prospekten mit sich brachte. Nach einigen Monaten waren sogar die kleinsten Verkaufsstellen für den Bürobedarf informiert, und meine Arbeit begann mühselig zu werden. Der Triton-Chipsatz wurde nur noch mit „Trit.-Chipsatz“ oder „T-Chipsatz“ abgekürzt, so dass eine Abmahnung nicht mehr möglich war. Ich konnte jedoch nicht aufhören, und in meinem nicht enden wollenden Arbeitseifer kam mir eine rettende Idee. In der Kanzlei klingelte erneut das Telefon.
„Wie sieht es eigentlich jetzt aus, wenn ich reingehe und dem Verkäufer sage, er soll mir einen Kostenvoranschlag geben, wo dann Triton draufsteht?“, fragte ich.
Gravenreuth überlegte kurz. „Das geht“, sagte er dann. „Sie müssen aber darauf achten, dass Sie sich wie ein gewöhnlicher Kunde benehmen. Es ist zwar noch kein Testbesteller auf so eine Idee gekommen, aber rechtlich gesehen ist das korrekt.“
„Und wenn ich mich als jemand anders ausgebe? Zum Beispiel auf einer Visitenkarte?“
„Ja!“, antwortete er fast beiläufig.
Mir war, als hätte er nicht richtig zugehört oder wollte es zumindest nicht. Eine andere Antwort hätte ich aber sowieso nicht von ihm erwartet.
Mit einer seriös wirkenden Visitenkarte einer nicht existierenden Bekleidungsfirma setzte ich meine Suche nach dem Wort „Triton“ fort. Nun konnte ich selbst diejenigen Computergeschäfte aufsuchen, die nicht mit dem Triton-Chipsatz warben. Mein Ziel war es, die Leute dazu zu bringen, sich selbst ans Messer zu liefern. In Anzug und Krawatte trat ich als Geschäftsmann vor die unwissenden Verkäufer und meldete den Kauf mehrerer PCs für mein Unternehmen an. Als Grund für die Wahl ihrer Geschäftsstelle gab ich irgendwelche erfundenen Empfehlungen an. Ich drückte den Verkäufern ein Blatt in die Hand mit den Erwartungen, die man in meiner Firma an ein PC-System habe. Dabei betonte ich, dass ich selbst keine Ahnung von Computern hätte, schließlich sei ich ja aus der Modebranche. Auf dem Blatt standen Bezeichnungen für ein komplettes PC-System mit reichlich unnötigem Peripherie-Schnickschnack, von denen ich gleich zwanzig benötigte. Darunter, ganz unscheinbar und etwas unleserlich das Wort „Triton“, das der Verkäufer mit großen Dollarzeichen in den Augen übersah. Ich bewegte die Händler zu einem Kostenvoranschlag, legte keinen großen Wert auf Vergünstigungen und gab damit denjenigen Verkäufern, die das Wort Triton bemerkten, den letzten Ruck.
Später verschaffte ich mir ein bisschen Abwechslung, indem ich unterschiedliche Rollen annahm. Dies war außerdem ein guter Weg, um meine Anonymität zu wahren. Ob als lässiger Freak eines Computerclubs oder als Angestellter völlig sinnloser Firmen, man warf mir die Kostenvoranschläge hinterher. Um mir den Besuch von Computerläden weit außerhalb Hamburgs zu ersparen, degradierte ich mich zum Telefonisten und ließ Kostenvoranschläge an ein Faxgerät in München schicken, das ich für diesen Zweck angemietet hatte. Einige Monate lief alles problemlos für mich, bis ich einen Anruf von Gravenreuth bekam.
„Haben Sie mal in die c’t geschaut? „, fragte er.
Obwohl ich mir schon denken konnte, worum es ging, spielte ich den Unwissenden. „Was steht denn da?“
„Lesen Sie mal. Sie sollten sich in Zukunft wie ein gewöhnlicher Kunde benehmen. Mein Mandant möchte das so nicht haben und hat sich bei uns beschwert. Die c’t schreibt, die Testbesteller würden die Händler anbaggern.“
„Ich baggere keinen an“, versicherte ich ihm, „die Händler übertreiben doch immer, ist ja klar. Ich benehme mich wie ein gewöhnlicher Kunde.“
Einige Tage danach kam ein Rundschreiben von der Kanzlei an alle Testbesteller, mit der Aufforderung, das „dreiste Anbaggern“ zu unterlassen. Mich interessierte das nicht, und ich machte nach alter Manier weiter. Meine Rechnungen wurden weiterhin beglichen.
Zwischenspiel
Das Magenknurren, das mich seit Stunden nervte, entwickelte sich allmählich zu einer kompletten Symphonie. Da ich mitten in der Arbeit steckte, hatte ich keine Zeit zum Essen gehabt, und mein Körper zahlte es mir jetzt zurück. Ich konnte es nicht mehr länger hinauszögern, etwas Festes zu mir zu nehmen, und machte mich mürrisch auf den Weg zu einer Imbissbude, die nicht weit von meiner Wohnung entfernt war. Ohne dass ich es mitbekommen hatte, musste es geregnet haben, denn die Straße schimmerte ölig im Schein der Sonne, die allmählich wieder hinter den Wolken zum Vorschein kam. Ich mochte dieses Wetter. Der Regen wusch den Dreck von den Straßen und hinterließ immer diesen angenehmen, frischen Geruch, den ich tief in meine Lungen einsog. Irgendwie war es doch eine gute Idee gewesen, die Wohnung zu verlassen, und ich genoss meinen kleinen Spaziergang.
„Grizzly!“, rief eine Stimme hinter mir. Ich drehte mich um, Psyche, ein alter Bekannter aus der Szene, stand einige Meter von mir entfernt. Seine sommerliche Kleidung war völlig durchnässt, der Regen musste ihn voll erwischt haben. Er kam auf mich zu und lächelte. Ich erinnerte mich an gute und lustige Zeiten mit Psyche. Bei kleineren Usertreffen war er immer ein angenehmer Freund gewesen, an dessen Seite man sich wohlfühlte. Ich hatte ihn das letzte Mal auf der Messe gesehen. Seitdem war er blass geworden, und ich hätte ihn fast nicht wiedererkannt. Psyche erzählte mir, dass seine Frau ihn verlassen habe, und er die Miete alleine nicht mehr zahlen konnte. Also ist er einfach wieder zu seinen Eltern gezogen, die ein paar Straßen weiter wohnten. Auf die Frage, was ich denn so treibe, fand ich keine angemessene Antwort.
„Weißt schon“, sagte ich. „So dies und das.“
Psyche lachte und tat wissend: „Verkaufst immer noch Warez, was?“
„So ähnlich.“
Ich sprach ihn auf sein System „Premier“ an, die damals einen guten Namen in der Szene hatte. Sein Lächeln verwandelte sich in Verwunderung.
„Weißt du nicht?“, fragte er. „Ich bin von irgend so einem Arsch gebustet worden.“
Ich schaute ihn verwundert an. „Premier“ war mir ein Begriff, aber ich konnte mich nicht erinnern, ob ich es gewesen war, der seine BBS gebustet hatte. Der Gedanke, dass dieser Bust auf meine Kappe ging, schockierte mich. Das hätte ich dem alten Psyche nicht antun dürfen.
Als ich wieder zu Hause war, blätterte ich wie wild in meinen Aktenordnern herum und suchte nach den Listen mit den Systemen, die ich an Gravenreuth ausgeliefert hatte. „Premier“ konnte nicht von mir verraten worden sein, so etwas wäre mir aufgefallen. Mit dem Finger fuhr ich hastig Zeile für Zeile ab. Auf einem Blatt, auf dem links oben dick unterstrichen „Premier BBS“ stand, blieb mein Finger stehen.
Ich war überrascht. Ich versuchte mich zu konzentrieren, konnte mich aber nicht daran erinnern, diese BBS gebustet zu haben. Ich hätte wissen müssen, dass ich einmal ein fast schon freundschaftliches Verhältnis zu diesem Systembetreiber gehabt hatte und hätte ihn eigentlich verschonen sollen. Wahrscheinlich war ich mit meinen Gedanken zu sehr bei meinem Konto gewesen. „Pech gehabt“, sagte ich mir, um das seltsame Gefühl in meinem Magen zu verdrängen. Doch es funktionierte nicht. Das erste Mal fühlte ich mich schuldig. Ich rief in der Kanzlei an, um nachzufragen, was aus der Strafanzeige gegen meinen Bekannten geworden war. Gravenreuth konnte mir keine klare Antwort gehen, nutzte aber die Gelegenheit, mir mitzuteilen, dass er bald in Hamburg sein würde. Damit stand wieder eines unserer seltsamen Treffen an.
Der Ausstieg
Wir entschieden uns für dasselbe Cafe wie bei unserem ersten Treffen, aber zu diesem Zeitpunkt wäre mir jeder andere Treffpunkt genauso recht gewesen. Ich wünschte mir schon fast, dass mich endlich jemand erwischen würde, damit mir diese Last von den Schultern genommen würde. Ohne ein Wort zu sagen, kam Gravenreuth zur Tür hinein und warf mit ein Laufwerkschloss auf den Tisch. Ein Schloss in Fom eines Datenträgers, dass man in ein Laufwerk schieben konnte, um es vor fremden Zugriffen zu schützen. Ich nippte an meinem Bier.
„Und was ist das?“, fragte ich desinteressiert. Gravenreuth setzte sich.
„Einfach nur danach Ausschau halten und kaufen. Die Fox GmbH hat ein Patent darauf, und kein anderer darf das vertreiben.“
Ich betrachtete das Laufwerkschloss ein wenig näher. Die Konstruktion war alles andere als spektakulär. Wahrscheinlich eine der dümmsten Sicherheitsmaßnahmen, die man sich einfallen lassen konnte. Jeder Trottel wäre in der Lage gewesen, dieses Schloss wieder zu entfernen.
„Den Beleg schicken Sie an uns“, fuhr er fort. „Dann bekommen Sie den Kaufpreis erstattet, plus fünfundsiebzig Euro pro Fall.“
Wenn das so weiterginge, würde ich für meine nächsten Arbeiten wohl noch draufzahlen müssen, dachte ich und schüttelte den Kopf.
„Das ist die Mühe nicht wert.“
Ich schob das Laufwerkschloss in Gravenreuths Richtung, der mich ein wenig erstaunt ansah.
„Hören Sie“, sagte er mit einem kurzen Blick auf die Uhr, „ich bin etwas in Eile, machen Sie es oder lassen Sie es bleiben.“
Er stand genauso wortlos auf, wie er gekommen war, und machte sich auf den Weg. Mit dem Laufwerkschloss auf dem Tisch und einem Bier in der Hand schaute ich ihm nach, enttäuscht über die Art, wie er mit mir umging. Auf dem Nachhauseweg sah ich zufällig im Schaufenster eines Computerladens eines dieser Laufwerksschlösser liegen. Ich ging in den Laden und kaufte es. Aber anstatt es auf gewohntem Weg in die Kanzlei zu schicken, warf ich es zusammen mit der Rechnung wütend in den nächstbesten Mülleimer.
Als ich wieder zu Hause war, wollte ich ein wenig Ordnung schaffen und versuchte genervt, die vielen Quittungen und Belege, die sich angesammelt hatten in einen meiner zehn Ordner einzusortieren, als es an der Tür klingelte. Ich erwartete niemanden und wusste auch nicht, wer mir aus meinem mittlerweile recht spärlich gewordenen Freundeskreis einen unangemeldeten Besuch abstatten könnte. Ich öffnete die Tür, und zu meinem Erstaunen stand Florian, den ich seit nunmehr drei Jahren nicht gesehen hatte, mit einer Frau vor mir. Ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte. Florian nahm mir die Entscheidung ab.
„Hey Alter, Mensch, lange nichts mehr von dir gehört“, sagte er freudig.
„Ja, lange nichts mehr von dir gehört „, konterte ich. Er lächelte.
„Das ist meine Freundin Maike.“
„Angenehm“, gab ich zurück und schüttelte ihr die Hand. Sie war hübsch.
„Wir wollen uns nächste Woche verloben.“ Er nahm seine Freundin fest in den Arm. „Und ich wollte dich einladen.“
Ich war sprachlos. Nach so langer Zeit hatte Florian mich nicht vergessen. Er hatte den ersten Schritt getan und mir völlig unerwartet einen Besuch abgestattet. Diese Geste rief mir wieder unsere vertraute und enge Freundschaft in Erinnerung.
Ich hatte plötzlich das Gefühl, dass die Welt da draußen in den letzten drei Jahren an mir vorbeigegangen war. Mein bester Freund würde sich verloben, und ich hatte seine Freundin bis zu diesem Augenblick noch nicht gesehen. Ich hatte nichts in der Wohnung, was iangemessene Antwortch den beiden hätte anbieten können, so mussten sie sich mit Leitungswasser zufrieden geben. Meine Wohnung war mittlerweile das reinste Chaos. Die Fenster waren mit Decken abgehängt, damit kein Licht in die Wohnung fiel. Selbst mein Wohnzimmer sah aus wie ein unterirdischer Bunker. Florian schnappte sich wortlos das untere Ende einer Decke, riss sie vom Fenster und schaute mich an. Licht strömte in das Zimmer und fiel auf die Tastatur meines vor Staub schon ganz grau gewordenen Computers. Das Einzige, was an dem Gerät vor Sauberkeit strahlte, war der Knopf zum An- und Ausschalten, auf den ich das erste Mal seit Wochen meinen Daumen presste. Das summende Geräusch des Kühlers, das wie ein Tinitus mein ständiger Begleiter gewesen war, verstummte.
„Wir gehen ein Bierchen trinken“, sagte Florian, der seine Freundin noch immer mit festem Griff an seiner Seite hielt. „Kommst du mit?“
Ich lächelte die beiden an.
„Ja!“, sagte ich. „Na klar.“