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Die TV-Serie im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit

von Michael Scheyer

 

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Wie kann die "vollständige Bedeutung" einer TV-Serie übertragen werden? Zunächst einmal sollte man davon ausgehen, dass es eine absolut vollständige Übertragung nicht geben kann.

Eine hundertprozentige Bedeutungsäquivalenz ist eine hypothetische Annahme, aber um dem Ziel wenigstens nahe zu kommen, gehen wir zurück zu den Babyloniern, die einen Turm bauen wollten. Derrida zeigte in seinem Aufsatz: Turmbau zu Babel das Problem der Übersetzung allein anhand des Begriffs Babel. Obwohl er nur ein Name ist, bekommt der Begriff in unterschiedlichen semiotischen Systemen, also unterschiedlichen Kulturen, unterschiedliche Bedeutungszusammenhänge. Diese unterschiedlichen Zusammenhänge, können wiederum unterschiedliche Deutungen zulassen.

Dieses Phänomen ist jedem bekannt, der in der Schule mit der Übersetzung von fremdsprachigen Texten konfrontiert wurde. Dies ist einer Übersetzung immanent. Schon der Begriff Entertainment kann unterschiedliche Übersetzungen hervorbringen, denn die Bedeutungszuordnungen sind im Englischen nicht die gleichen wie im Deutschen. Unterhaltung reicht nicht aus als Übersetzung, der Begriff muss näher erläutert werden oder aus dem Kontext heraus erkannt werden. Geht es um ein Gespräch oder um medialen Zeitvertreib oder um wieder andere Unterhaltungsbedeutungen? Derrida zeigte, dass jeder einzelne Begriff eines Textes in seine einzelnen Bedeutungsebenen zerlegt werden muss, um die vollständige Bedeutung des Begriffs übertragen zu können und um ihn anschließend in der zweiten Sprache neu zu konstruieren. Und zwar so, dass alle Sinnzusammenhänge des Begriffs in der zweiten Sprache äquivalent abgedeckt sind. Hierbei handelt es sich jedoch nicht um eine Wortäquivalenz, sondern um eine Bedeutungsäquivalenz.

Die Dekonstruktion eines Textes ist eine im Vergleich zu einem audiovisuellen Medienprodukt leichte oder dankbare Aufgabe. Ohne die Schwierigkeit der textlichen Übersetzung schmälern zu wollen, bleibt es dem Übersetzer eines Textes jedoch in den allermeisten Fällen überlassen, das gesamte Werk vollständig neu zu konstruieren. Im Falle eines audiovisuellen Medienprodukts, im Speziellen bei einer Synchronisation einer TV-Serie, ist dies jedoch selten der Fall.

Die gängige Praxis zeigt, dass die allermeisten Übertragungen in Deutschalnd Synchronisationen sind. Vor allem das deutsche TV-Publikum hat sich an die Synchronisationspraxis gewöhnt und erwartet im breiten Mainstreamfernsehen synchronisierte Fassungen von TV-Serien. Da die Bild- und die (nicht-sprachliche) Tonebene bei einer Synchronisation beibehalten werden, ist es bei einer Synchronisation einer TV-Serie zwar theoretisch möglich, sämtliche Bedeutungsebenen zu dekonstruieren, aber es ist praktisch nicht umsetzbar, sie neu zu konstruieren. Die Bildebene kann nur sehr begrenzt und auch die Geräuschebene kann nur mit einem besonders großen Aufwand neu gestaltet werden. Deshalb ist eine Synchronisation von Natur aus eine unvollständige Übersetzung, eine nicht komplette Übertragung.

Um eine TV-Serie (oder jedes andere audiovisuelle Medium) vollständig zu dekonstruieren, wäre es notwendig jeden einzelnen visuellen, auditiven und textlichen (kulturellen) Code zu identifizieren, auf seine Bedeutungsebenen zu dekonstruieren und diese über die visuellen, auditiven und textlichen Codes des zweiten System neu zu konstruieren. Für eine vollständige Bedeutungsübertragung einer TV-Serie von einer Sprache in einer andere, ist nicht nur eine textliche und sprachliche Übersetzung notwendig, sondern eine multidimensionale Dekonstruktion.

Doch es gibt ein Problem der Dekonstruktionstheorie: Sie vergisst die über den Zerlegungsprozess hinausgehende Bedeutung der künstlerischen Intention. Auch die Dekonstruktion kann die Intention des Künstler, des Autors, des Regisseurs nicht ergründen. Diese spielt aber ebenfalls eine Rolle. Und so wie die Intention des Künstlers eine Rolle spielt, spielt auch die Intention des Übersetzers eine Rolle. Eine Übersetzung ist immer auch eine Interpretation. Axel Bühler listet für das Problem der Übersetzung als Interpretation 13 verschiedene Arten des Interpretierens auf. Eine vollständige Bedeutungsäquivalenz ist aus philosophischer Sicht schon allein deshalb nicht möglich, weil ein Übertragungsprozess an ein Subjekt gebunden ist, das interpretieren muss. Die Interpretation des Übersetzers und die mangelnde Deutbarkeit der Intention des Künstlers steht der Allgemeingültigkeit einer Übertragung gegenüber. Übersetzung ist und bleibt ein an das Subjekt gebundener Vorgang, der sich je nach Intention des Übersetzers unterschiedlich ausdrücken kann und darf mit einem technologischen Reproduktionsprozess nicht gleich gesetzt werden. (Diese Beobachtung läge wohl ganz im Sinne Benjamins.)