16. Juni 2001

Berliner Zeitung

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John Draper, der als „Cap’n Crunch“ für seine Telefon-Hacks bekannt wurde, war in Deutschland

John T. Draper alias Cap'n Crunch

John T. Draper alias Cap’n Crunch auf der Hackertales Lesung mit dem Buch Hackertales

T. Baumgärtel | Für John Draper scheint das alles vollkommen normal zu sein: Er wird aus den USA nach Deutschland geflogen, um aus seinem Leben zu erzählen. Dort bitten ihn Leute um Autogramme. Er signiert Bücher, posiert für Fotografen. „Ich habe auch ein paar Angebote aus Hollywood“, sagt der 54-Jährige. „Die wollen mein Leben verfilmen, aber bisher habe ich alles abgelehnt. Die sind mir zu blöd. Außerdem wollen sie nicht genug bezahlen.“

Und all das für eine Geschichte, die fast dreißig Jahre zurückliegt und die ihm fünf Jahre Gefängnis eingebracht hat. Eine Geschichte, in der es um teure Technik und eine kleine, billige Flöte aus blauem Plastik geht, um blinde Kinder und das FBI, und darum, wie ein paar Kids einen internationalen Konzern ausspionieren und an der Nase herumführen können. Eine Geschichte, die Draper in der ganzen Welt bekannt gemacht hat und wegen der er für viele als der Hacker schlechthin gilt.

Auf der Ledercouch

Das fanden auch die beiden Kölner Hacker und Autoren Denis Moschitto und William Sen, und porträtierten ihn in ihrem Buch „Hackertales“. Zur Buchvorstellung haben sie ihn nach Deutschland eingeladen, und nun sitzt er auf einer weißen Ledercouch auf der Bühne in einem postmodernen Bürogebäude im Kölner MediaPark und erzählt, wie er Anfang der 70er-Jahre das US-Telefonnetz gehackt hat.
Wenn er über seine Geschichten lächelt, und das tut er oft, sieht man, dass er keine Zähne mehr im Oberkiefer hat. Er trägt einen weißen Bart und ungekämmte Haare à la Professor Unrat. Irgendwie würde es zu ihm passen, wenn er einen Laborkittel tragen würde, aber stattdessen umschlabbern ein weites T-Shirt und ebenso weite Hosen seinen Körper – die typische „Arbeitsbekleidung“ von Hackern, weil das am wenigsten kneift, wenn man lange vor dem Computer sitzt.

Seine Geschichte ist längst Hacker-Folklore, und die meisten, die heute Abend gekommen sind, könnten sie wahrscheinlich fast genauso gut erzählen wie Draper selbst. Sie sind gekommen, wie man zu einer Dichterlesung kommt – das Buch könnte man zwar auch selbst lesen, aber wenn der Autor seine Geschichten selbst vorträgt, haben sie eine andere Aura.

Die Geschichte von Cap’n Crunch ist in Büchern und im Netz wieder und wieder erzählt worden – erstens weil sie ein Lehrstück in Sachen Hackertum ist. Und zweitens weil sie wirklich unglaublich komisch und absurd ist, denn sie hat mit Telefonbetrug und Frühstücksflocken zu tun. Ja, mit Frühstücksflocken. Den Frühstücksflocken hat John Draper nicht nur seinen Spitznamen „Cap’n Crunch“ zu verdanken, sondern auch seinen Ruf als Hacker.

Aber der Reihe nach: Die Geschichte von John Draper beginnt 1969. Draper, frisch aus Vietnam zurück, lebte in der Gegend südlich von San Francisco, die heute als Silicon Valley bekannt ist. Er arbeitete bei National Semiconductors und studierte gleichzeitig Ingenieurswissenschaften. In seiner Freizeit bastelte er mit Radiogeräten herum und konstruierte schließlich einen eigenen Sender. Der erste und wahrscheinlich einzige Hörer seiner Sendung, die ausschließlich aus Drapers Telefonnummer bestand, war ein Mensch namens Joe, der begeistert anrief und berichtete, dass er die Radiosignale klar und deutlich empfangen habe. Er sei ebenfalls ein Radiobastler, würde sich aber auch für Telefone interessieren.

Wer interessiert sich bloß für Telefone, wunderte sich Draper. Trotzdem besucht er einige Tage später seinen neuen Freund. Joe war blind und saß jeden Nachmittag mit anderen blinden Freunden in seinem abgedunkelten Zimmer. Dort bastelten sie mit Radios und Telefonen herum und hatten dabei durch Zufall herausgefunden, wie man gratis Telefonate führen konnte.

Joe wählte eine gebührenfreie Nummer und während es klingelte, spielte er auf der Heimorgel seines Vaters ein gestrichenes E. Dieser Ton hat 2 600 Megahertz und wurde von den Telefongesellschaften dazu benutzt, um Leitungen freizuschalten. Das Klingeln wurde unterbrochen, aber die gebührenfreie Verbindung stand, und nun konnte man umsonst jede beliebige Telefonnummer anrufen. Cap’n Crunch und seine Telefon-Clique gingen auf eine telefonische Weltreise.

Transatlantisches Schwätzchen

Sie riefen die Auskunft in Tokio an und holten Leute in Paris aus dem Bett. An einer öffentlichen Telefonzelle auf dem Trafalgar Square in London hoben immer Passanten ab, mit denen sich ein transatlantisches Schwätzchen halten ließ, und wenn nicht, konnte man immer noch „Dial-a-Record“ anrufen und die britische Hitparade anhören. Bald kannte Cap’n Crunch das Telefonsystem von AT&T besser als viele Angestellte der Firma.

Und dann entdeckte Draper die berühmte Pfeife. Anfang der 70er-Jahre lag den gezuckerten Cornflakes, die in den USA unter dem Namen „Cap’n Crunch“ verkauft wurden, eine kleine Flöte als Werbegeschenk bei. Sie produzierte den begehrten 2 600-Megahertz-Ton, wenn man eins ihrer Löcher zuklebte. Jetzt brauchte Crunch keine Heimorgel mehr für seine Gratis-Telefonate. Als John Draper auf der Pfeife blies, öffnete sich ihm das Telefonnetz der ganzen Welt und wurde zu einem einzigen, gigantischen Spielplatz, den er von jedem beliebigen Telefon aus betreten konnte.

Gerne unternahm er nun aus Telefonzellen akustische Weltreisen, rief aus San Jose in Indien an, leitete den Anruf nach Südafrika weiter, von dort nach Griechenland und schließlich zurück nach San José, wo das Telefon in der Zelle nebenan klingelte und er mit sich selbst sprechen konnte. Alles ohne zu bezahlen.

Um einen noch zuverlässigeren Klang hervorzubringen, baute er einen kleinen Synthesizer. Mit dem Gerät gingen Draper und seine Freunde auf Telefon-Trip quer durch die USA. „In Nevada haben wir ein uraltes Telefon mit einer Kurbel entdeckt, und selbst da hat unser Trick funktioniert“, freut sich Draper noch heute.

Toll und illegal

Es war ein toller Zeitvertreib, bei dem man viel lernen konnte. Außerdem war es absolut illegal. Im Mai 1972 wurde John Draper vor einem Supermarkt in Santa Clara von FBI-Männern verhaftet und in einem der ersten Verfahren gegen Telefonhacker zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Im Knast fand er heraus, wie man mit einem Transistorradio die Funkgeräte der Wärter abhören konnte. Die anderen Gefangenen nahmen daraufhin Unterricht in Elektronik bei ihm.

Hat er wegen seiner Taten heute ein schlechtes Gewissen? „Nö“, sagt Draper knapp und grinst wieder sein zahnloses Grinsen. Für ihn – wie für jeden Hacker – waren seine Aktivitäten keine Verbrechen, sondern Experimente. „Ich beschäftige mich mit einem System“, erläuterte er 1972 einem Reporter der Zeitschrift „Esquire“. „Die Telefongesellschaft ist ein System. Ein Computer ist ein System. Was ich tue ist nichts Anderes, als dieses System zu erforschen. Computersysteme sind mein Ding. Und die Telefongesellschaft ist auch bloß ein riesiger Computer.“

Für die Hacker von heute hat er nicht mehr viel übrig. „Solange Computer und das Internet technische Fehler haben, so lange wird sie auch jemand ausnutzen“, sagt er. Er selbst steht inzwischen jedoch auf der anderen Seite. John Draper ist Geschäftsführer einer Firma, die einen supersicheren Internetserver herstellt, den angeblich niemand knacken kann. Die Maschine heißt „Crunchbox“.

Das kleine Pfeifchen, das ihn einst zu einem der berühmtesten Hacker gemacht hat, ist inzwischen eine gesuchte Rarität. Beim Internetauktionshaus Ebay werden über 200 Dollar für alte „Cap’n Crunch“-Flöten geboten. Inzwischen sind sie sogar schon in einigen Computermuseen zu sehen.


Kapitel des Buchs Hackertales kostenlos online lesen:
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